Münster: Filmemacher wollen an die reale Not von Jugendlichen andocken
Ein neuer Trend beim europäischen Spielfilmwettbewerb des 11. Filmfestivals Münster unter dem Titel „Growing up“: Filmemacher legten schonungslos offen, wie sehr Jugendliche und Kinder unter einem erstarkenden europäischen Neoliberalismus leiden. In ihren Filmen zeigen sie obendrein unerbittlich und in Nahaufnahme, wie erniedrigte und emotional vernachlässigte Heranwachsende sich dagegen aggressiv zur Wehr setzen. Eine spannende politische Positionierung – jedoch keine einfachen Rollen für die jugendlichen Darsteller!
Keine sanftmütigen und romantischen Filme über das Erwachsenwerden wurden beim Filmfestival in Münster gezeigt. Es glimmt so etwas wie ein wilder Protest in den Reihen der Filmemacher auf, geradeso als hätten sie sich verabredet: „Schluss mit den Schmusefilmen, wir wollen an die reale Not vieler Jugendlicher andocken. Und unser Publikum durch filmische Stilmittel der Überzeichnung erschüttern“. In allen Facetten soll die Hölle von Entwürdigung und Mühsal, die viele Kinder auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden durchleben, sichtbar werden. Regisseure und jugendliche Darsteller nahmen bei den Debatten des Symposiums in Münster eine radikale Haltung ein.
Amma Asantes britischer Film „A way of Live“ sei wohl eher nichts für eine Matinee, leitete denn auch die Filmwissenschaftlerin Betty Schiel das packende Sozialdrama auf der Kinoleinwand ein. In der Tat, schon in der Anfangsszene treten Jugendliche brutal auf einen auf dem Boden liegenden Mann ein. Angst, Perspektivlosigkeit und Wut explodieren – jene tödliche Mischung trifft einen Unschuldigen mit dunkler Hautfarbe. Von einer Ästhetisierung der Gewalt keine Spur, verherrlicht wird hier nichts. Die Gewaltszene soll ihr Publikum nachhaltig schockieren, es macht keinen Spaß zuzuschauen. Soll es auch nicht.
„Der Zuschauer soll sich fühlen wie das Mädchen auf der Leinwand, dem Gewalt angetan wird“ – Klartext redet ebenso die niederländische Regisseurin Hilde van Mieghem über eine Vergewaltigungsszene in Nahaufnahme in ihrem Film „De Kus“/ „The kiss“. Die Szene ist Stilmittel. Soll die soziale Kälte und Ignoranz der Eltern fokussieren, die selbst dann nicht weicht, als ihre fünfzehnjährige Tochter Sarah in die Gewalt eines Luden alten Stils gerät. Die Regisseurin äußerte allerdings erleichtert, dass die Hauptdarstellerin Sarah (Marie Vinck, van Mieghems Tochter) bereits 22 Jahre alt ist – und nicht minderjährig.
Yilmaz Arslan, Regisseur von „Brudermord“, intendiert, das Elend eines jungen Kurden im deutschen Exil vor Augen zu führen – „unausweichlich wie der Untergang eines Helden in der griechischen Tragödie“. So konterte der in der Türkei gebürtige Filmemacher kritischen Bemerkungen des Publikums wegen des „blutrünstigen Draufhaltens in seinem Film. „Es ist ein Widerstandsfilm. Ich bin gegen die jetzigen aufgeweichten politischen Formen, mit solch zündendem Konfliktstoff umzugehen“, meint der Regisseur. Sein Hauptdarsteller, der 18-jährige Erdal Azad Celik, (bei Drehbeginn 17 Jahre) berichtet abgeklärt, „das Drehbuch gelesen, darüber nachgedacht und es für gut befunden“ zu haben. Dass ein Spielfilm keine Realität widerspiegelt, sei ja wohl klar.
Kann man also Jugendlichen schon „so einiges zumuten“, wie Arslan meint? In Münster wurden wichtige Fragen gestellt: Ist es legitim, Kindern, die vor der Kamera etwa als Opfer sexuellen Missbrauchs erscheinen, nur die halbe Wahrheit über ihre Rolle zu erzählen? Motto: „Jetzt schau einmal so entsetzt in die Kamera, als ob dir gerade dein schönes neues Fahrrad geklaut wird“. In der nächsten Szene zieht dann der Schauspieler, der den Gewalttäter darstellt, den Reißverschluss seiner Hose hoch. Und wie ist eigentlich mit sechsjährigen Kinderdarstellern umzugehen, die jene Filme, in denen sie mitspielen, erst mit 16 Jahren sehen dürfen? Die Verantwortung des Regisseurs beim Drehen mit Kindern und Jugendlichen ist groß, darüber herrschte Einigkeit. Entscheidungen müssen stets auf den Einzelfall abgestimmt sein – abgesehen von jenen gesetzlichen Auflagen, die das Jugendarbeitsschutzgesetz vorsieht. Etwa, dass Kinder bis zu sechs Jahren nur zwei Stunden täglich vor der Kamera agieren dürfen, und bis zum Ende der Schulpflicht dann drei Stunden, sowie weitere zwei Stunden Aufenthalt am Set. Filmproduzenten stöhnten unter dem Druck der Auflagen, so war zu vernehmen – wichen mitunter gar ins Ausland aus.
Sollten sich also die Filmemacher lieber an die gute, alte Hollywood-Regel halten: „Drehe nie mit Kindern und Tieren“ und die Kinder ihre Jugend genießen, als sich in die Haifischbranche zu stürzen? Nicht unbedingt. Denn sonst hätte etwa Svetovar Ristovskis beeindruckender mazedonisch-albanischer Debütfilm „Iluzija“ / „Trugbild“ erst gar nicht entstehen können, in dem sichtbar wird, wie Opportunismus, Unglaubwürdigkeit und Korruption der Erwachsenen die Gewalttätigkeit eines Jungen hervorrufen. Die Fantasie der Filmemacher vom verzweifelten Zurückschlagen erniedrigter Jugendlicher hat rebellischen Charakter. Einzig die international besetzte Jury in Münster wollte nicht mitspielen. Den Festivalpreis erhielt Radu Mihaileanus Film „Live and Become“, der den Flüchtlingsalltag eines äthiopischen Jungen subtil schildert, die explosive Wucht der Gegengewalt ausspart.