Neuer Anlauf zur Massenüberwachung

Gegen Überwachung und Vorratsdatenspeicherung wird seit Jahren protestiert. Hier bei "Freiheit 4.0 - Rettet die Grundrechte" im September 2017 in Berlin. Foto: Christian von Polentz

Der Bürgerrechtsverein Digitalcourage warnt vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, da Deutschland auf EU-Ebene die Vorratsdatenspeicherung voranbringen wolle. Auch auf nationaler Ebene liegt wieder ein Gesetzesentwurf vor, der die Vorratsdatenspeicherung im Falle von Terrorismus und Kindesmissbrauch einführen soll. Im Gespräch mit M erklärt Friedemann Ebelt, warum das Thema Massenüberwachung trotz höchster richterlicher Urteile wieder hochaktuell ist.

M | Ist es nicht Panikmache, vor der deutschen Ratspräsidentschaft zu warnen, wenn die Bundesregierung sich doch jetzt so für Digitalisierung und Klima auf EU-Ebene einsetzen will?

Friedemann Ebelt | Es ist absolut notwendig, dass wir gerade jetzt eingreifen und es ist fast nicht zu verstehen, dass es nicht auch andere machen. Denn das Thema Vorratsdatenspeicherung ist ein Grundsatzthema in der digitalisierten Welt. Wenn wir hier nicht aufpassen, geschieht vielleicht ein Dammbruch, der dazu führen könnte, dass das Speichern von Daten, die aktuell zu keinem bestimmten Zweck gebraucht werden, zum Standard wird. Alles was wir sehen, was die Bundesregierung aktuell in Deutschland tut und auf europäischer Ebene tun will, geht in diese Richtung. Deshalb warnen wir davor.

Friedemann Ebelt ist als Campaigner bei Digitalcourage Spezialist für Datenschutzthemen. Foto: Digitalcourage, CC BY SA 2.0

Was konkret macht die Bundesregierung denn?

Die Bundesregierung beharrt darauf, dass es ein Gesetz geben muss, das Anbieter von Telekommunikationsdiensten verpflichtet, anlasslos Metadaten zu speichern. Diese Metadaten sind sensible Aktivitätsdaten. Sie geben darüber Auskunft, wer wann telefoniert oder wer wann wo ins Internet geht.

Es gibt keine Ausnahme für Berufsgeheimnisträger?

Es lassen sich kaum Ausnahmen formulieren und wir wollen uns auch gar nicht darauf verlassen. Es gibt sie zwar im aktuellen deutschen Telekommunikationsgesetz, etwa für „Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen“, aber erfasst werden zu 99,99 Prozent Personen, die sich nichts zu Schulden kommen haben lassen. Das Konzept der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung ist nicht kompatibel mit Demokratien und Rechtsstaaten.

Ist es denn nicht so, dass sowohl der Europäische Gerichtshof als auch das Bundesverfassungsgericht schon eine klare Absage an die anlasslose Vorratsdatenspeicherung erteilt haben?

Ja, genau. Es gibt Urteile von beiden Gerichten, die Bedingungen für Speicherungen gesetzt haben. Demnach muss ein Zusammenhang zu einer schweren Gefahr oder einer konkreten schweren Straftat vorliegen, damit gespeichert werden darf. Außerdem dürfen nicht die Daten von allen pauschal gespeichert werden. Es braucht daher eine Eingrenzung hinsichtlich Raum, Zeit und bestimmten Daten. Aber die Bundesregierung ignoriert diese Vorgaben komplett, was uns aufhorchen lässt.

Handelt die Bundesregierung hier aus Versehen oder mit Absicht so?

Wenn ein Gericht ein Urteil spricht, muss eine Regierung helfen, dieses Urteil im Rechtsstaat umzusetzen. Was wir aber sehen, ist, dass die Bundesregierung diese Urteile angreift. Wir haben das in der Anhörung des Europäischen Gerichtshofs zu einem Verfahren gesehen, in dem es um die in anderen EU-Mitgliedstaaten praktizierte Vorratsdatenspeicherung ging. Da hat die Bundesregierung die Erwartung formuliert, dass das Gericht seine Rechtsprechung korrigiert. Das macht uns große Sorgen.

In welche Richtung sollte sich denn nun die Debatte um Überwachung bewegen?

Wir wünschen uns ein Verbot von anlassloser, also willkürlicher Vorratsdatenspeicherung und das in der kompletten Europäischen Union. Wir sehen, dass es bessere Möglichkeiten gibt, wenn es um die konkreten Zwecke der Vorratsdatenspeicherung geht wie bei der Ahndung von Kindesmissbrauch oder Terrorismus. Aber diese besseren Mittel werden nicht umgesetzt, weil immer wieder auf der vollständigen Vorratsdatenspeicherung bestanden wird.

Welche Gründe könnten die Union dazu bewegen?

Warum die Union so auf die Vorratsdatenspeicherung fixiert ist, kann man nur spekulieren. Es ist wohl ein Prestigeprojekt, das stark nach außen wirkt. Wenn man sagt, wir speichern jetzt alles und schützen damit Kinder, ist das eine politische Haltung, die ihre Wähler gutheißen.

Auf welche Straftaten bezieht sich die jetzt geplante Vorratsdatenspeicherung?

Die Bundesregierung führt hier Kindesmissbrauch und Terrorismus an. Aber wenn Überwachungsgesetze einmal verabschiedet sind, ist zu erwarten, dass sie im Laufe der Zeit stückchenweise erweitert und verschärft werden. Möglicherweise ist die Nutzung der Daten dann in einigen Jahren auch für die Ahndung von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz oder bei Hausfriedensbruch legal. Wenn Daten einmal gespeichert werden, wird es immer Gründe geben, sie auch für andere als die zunächst vorgesehenen Zwecke zu nutzen. Letztendlich ist es so, dass wir bereits die Speicherung der Daten und nicht erst den Zugriff der Daten ablehnen, weil es wesentlich bessere, grundrechtschonende Lösungen gibt.

Als Lösung schlagt ihr Quick Freeze vor. Damit kann die Polizei erst nach einem begründeten Verdacht die Speicherung von Daten eines Verdächtigten verlangen. Was spricht denn aus Sicht der Bundesregierung gegen diese Lösung?

Ich habe keine Ahnung. Die Union fordert seit Jahren die anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Da wäre es eine politische Niederlage, von diesem Kurs abzuweichen. Insofern scheitert sie lieber vor den Gerichten, als dass sie hier Zugeständnisse an den politischen Gegner machen würde.

Gibt es denn fahndungstechnische Argumente gegen Quick Freeze?

Nun, das Argument ist, dass damit Daten zu spät erhoben würden.  Die Polizei würde erst bei konkreten Anhaltpunkten eine Speicherungsverfügung erwirken. Aber dann wäre das Verbrechen ja vielleicht schon passiert und die Daten kämen zu spät. Wir argumentieren aber anders – wie jüngst auch die Ermittler selbst in einem Bericht des NRW-Innenministeriums zum Kindesmissbrauch. So fallen in bekannt gewordenen Kindesmissbrauchsfällen in Münster und Bergisch Gladbach Täter auf, die seit Jahren einschlägig vorbestraft sind. Die Polizei kommt jedoch nicht hinterher, bekannte Fälle aufzuarbeiten. Mehr als 500 vorgesehene Hausdurchsuchungen wurden in Nordrhein-Westfalen nicht mangels Rechtsgrundlagen, sondern mangels Personal nicht durchgeführt. Aber statt die organisatorischen Missstände aufzuarbeiten, soll nun die Überwachung der kompletten Bevölkerung helfen.

An der Realität würde sich durch die Gesetzeskosmetik nichts ändern?

In NRW fängt die Union nun auch an, sich darum zu kümmern: Es wurde ein polizeilicher Schwerpunkt auf den Kindesmissbrauch gesetzt und Personal aufgestockt. In dem Bericht für das Innenministerium wurde eine Art Inventur der Strafverfolgung in diesem Bereich gemacht, um zu erkennen, was funktioniert und was nicht. So dauern beispielsweise die Arbeitsabläufe zu lange, die Fälle geraten wieder aus den Augen. Auch die IT-Infrastruktur ist in einem katastrophalen Zustand.

Also reflektiert die Gesetzesinitiative zur Vorratsdatenspeicherung auf Bundesebene gar nicht, was auf Länderebene an positiver Arbeit bereits getan wurde?

Die polizeilichen Ermittlungen gegen Kindesmissbrauch haben mit dem Mythos der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung nichts zu tun. Doch die aktuellen Fälle werden genutzt, um wieder die anlasslose Vorratsdatenspeicherung zu fordern. Dabei listet der Bericht für das NRW-Innenministerium – neben einem dürren Absatz auf der letzten Seite zur Vorratsdatenspeicherung – konkrete Maßnahmen auf, die dem Kindeswohl direkt nutzen. Für uns ist es daher nicht nachvollziehbar, warum beide Themen immer wieder miteinander vermischt werden.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

EU stimmt für Medienfreiheitsgesetz

Das Europäische Parlament hat den European Media Freedom Act (EMFA) mit einer deutlichen Mehrheit angenommen. Das Medienfreiheitsgesetz soll die Unabhängigkeit und Vielfalt von Medien stärken und Besitzstrukturen im Mediensektor transparent machen. Medienorganisationen begrüßten das Gesetz. An der Frage, inwiefern Journalist*innen vor Ausspähung geschützt werden sollen, wäre das Vorhaben fast gescheitert. Einer Überwachung werden nun enge Grenzen gesetzt – doch Bedenken bleiben. 
mehr »

Journalistinnen weltweit unter Druck

Kiran Nazish ist Gründerin und Direktorin der „Coalition For Women In Journalism“ und der Initiative „Women Press Freedom“ – einer globalen Organisation mit Sitz in New York, die Verletzungen der Pressefreiheit in 132 Ländern dokumentiert. Sie war Kriegsberichterstatterin im Nahen Osten und Lateinamerika, und Journalismus-Professorin in Indien, den Vereinigten Staaten und Kanada. Mit M sprach sie über sexistische Angriffe auf Journalist*innen, SLAPPs und die Gefahr durch repressive Staaten.
mehr »

EU segnet Anti-SLAPP-Gesetz ab

Das Europäische Parlament stimmte in Straßburg mit großer Mehrheit für die sogenannte Slapp-Richtlinie. 546 Parlamentarier*innen stimmten für das Gesetz, 47 dagegen und 31 enthielten sich. Die Regelung soll Einzelpersonen und Organisationen, die sich mit Angelegenheiten von öffentlichem Interesse wie Grundrechten, Korruptionsvorwürfen und dem Kampf gegen Desinformation befassen, vor missbräuchlichen Klagen schützen. Jetzt muss die EU-Richtlinie am 19. März durch den Europäischen Rat bestätigt werden. Danach haben die 27 EU-Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, die Vorschriften in nationales Recht umzusetzen.
mehr »

Ohne Anklage in polnischer Haft

Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde der Reporter Pablo González in Polen inhaftiert. Die polnische Justiz beschuldigt ihn seither, für den russischen Geheimdienst spioniert zu haben. Bis heute befindet er sich in Isolationshaft, ohne dass Anklage erhoben oder Beweise vorgelegt wurden. Mit dem Regierungswechsel in Polen kam zunächst Hoffnung für den Journalisten auf. Doch nun wurde seine U-Haft erneut verlängert.
mehr »