Punktsieg für die Rundfunkfreiheit

Das Bundesverfassungsgericht verurteilte den letzten Gebühreneingriff der Politik – forciert durch die Privatfunklobby – klar als Verfassungsbruch und plädierte zweifelsfrei für die Programmhoheit der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Dennoch ist das Urteil kein Blankoscheck für ARD, ZDF und Deutschlandradio, sich ungebremst auf dem digitalen Markt zu tummeln. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, den Rundfunkauftrag konkreter zu definieren.


Einige konnten es gar nicht fassen: „TV-Zuschauern drohen höhere Gebühren“ titelte der Tagesspiegel auf Seite 1, und der Kommentar wartete auf mit der rhetorischen Frage „Glotzer, wollt ihr ewig zahlen?“. Die Frankfurter Rundschau machte auf mit der Schlagzeile „Teures Fernsehen“, Spiegel Online urteilte enttäuscht: „Sieg für den Staatsfunk“. Die Medienredaktionen selbst der Qualitätsblätter machten in vorauseilendem Gehorsam im Interesse ihrer Verleger Stimmung gegen die nun zu befürchtende ungebremste Expansion der öffentlich-rechtlichen Anstalten in der digitalen Welt. Die tendenziösen Reaktionen auf das Gebührenurteil des Bundesverfassungsgerichts kaschierten nur schlecht die Verblüffung und Verärgerung mancher über einen Richterspruch, der sich geradezu als Hymne auf die Rundfunkfreiheit und die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Demokratie lesen lässt. Und zwar auch unter den seit dem letzten Gebührenurteil von 1994 eingetretenen medientechnischen und -ökonomischen Veränderungen.
Das Urteil ist zunächst eine klare Abfuhr für diejenigen Medienpolitiker, die seit 2003 versucht hatten, die damals angelaufene Gebührenrunde mit einer von ihnen gewünschten „Strukturreform“ zu koppeln. Es sei nochmals daran erinnert, was die parteiübergreifende „SMS-Dreierbande“ – Steinbrück, Milbradt und Stoiber – seinerzeit unter Strukturreform verstand: Personalkürzungen, Verminderung von Programmen, Zusammenlegung von Arte und 3sat und manches andere mehr. Klare Eingriffe in die Programmhoheit der öffentlich-rechtlichen Anstalten. In der Substanz konnten die meisten dieser Zumutungen zwar abgewehrt werden, aber der entrichtete Preis war hoch. Beim folgenden Länderkompromiss über den 8. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wurde erstmals von der Empfehlung der unabhängigen Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) abgewichen. Statt moderater 1,09 Euro Gebührenerhöhung mochten die Länder nur 88 Cent zusätzlich bewilligen. Dies alles vorgeblich aus Sorge um die Nöte des krisengebeutelten Bürgers. ver.di-Vize-Chef Frank Werneke hatte damals die Intendanzen von ARD und ZDF aufgefordert, „wegen der sonst drohenden dauerhaften Beschädigung des Verfahrens“ eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe einzureichen. Denn die Politik, das konnte man schon im Gebührenurteil von 1994 nachlesen, darf die Gebühr nicht als Knebel zur Einflussnahme auf Rundfunkfreiheit und Programmautonomie instrumentalisieren.

„Klatsche“ für Privatfunklobby

Eine Position, die von Karlsruhe jetzt machtvoll bekräftigt wurde. Das vergangene Gebührenverfahren war verfassungswidrig. Das Urteil ist somit nicht nur ein Sieg für die Kläger ARD, ZDF und Deutschlandradio. Es stärkt auch die Autorität der KEF, deren Existenzberechtigung mancherorts schon in Zweifel gezogen worden war. Zwar muss der Gesetzgeber nicht jeden KEF-Vorschlag einfach abnicken. Eine Korrektur, so die Karlsruher Richter, sei durchaus möglich, etwa im Hinblick auf unzumutbare Belastungen des Gebührenzahlers. Entscheidend aber sei, dass der Gesetzgeber sein Handeln begründen müsse. Dies sei im verhandelten Verfahren jedoch nur unzureichend geschehen.
Das Urteil wird infolgedessen positive Auswirkungen auf die kommende Gebührenrunde haben. „Aufkommender Übermut“, was den nächsten Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag angeht, dürfte nach dem Karlsruher Spruch „deutlich abgekühlt“ sein, bemerkte Martin Stadelmeier, Chef der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei. Was nichts an der Tatsache ändert, dass auch sein Dienstherr Kurt Beck als Mitinitiator des verfassungswidrigen Eingriffs formell zu den Verlierern des Verfahrens zählt.
Gleich eine „doppelte Klatsche“ (Stadelmeier) bedeutet das Urteil für die Privatfunklobby, speziell für den Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT) und seinen Präsidenten Jürgen Doetz, der seit Jahren hierzulande und vor der Brüsseler EU-Kommission einen Kreuzzug gegen die „digitale Expansionsstrategie“ von ARD und ZDF führt. Deren Programmangebot, so urteilten jetzt die Karlsruher Richter, müsse „auch für neue Inhalte, Formate und Genres sowie für neue Verbreitungsformen offen bleiben“. Mithin dürfe der öffentlich-rechtliche Rundfunk „nicht auf den gegenwärtigen Entwicklungsstand in programmlicher, finanzieller und technischer Hinsicht beschränkt“ werden. Die Hoffnung der Privaten, ARD und ZDF von einer substantiellen Teilhabe an der digitalen Welt auszuschließen, ging nicht in Erfüllung. Im Gegenteil: Laut Bundesverfassungsgericht muss die Finanzierung digitaler Angebote „entwicklungsoffen und entsprechend bedarfsgerecht“ gestaltet werden. Eine indirekte Absage auch an zeitweilige Bestrebungen der EU, die deutsche Rundfunkgebühr in wettbewerbsrechtlicher Betrachtung als „unerlaubte Beihilfe“ zu brandmarken.
Die quantitative Ausweitung des Medienangebots im digitalen Zeitalter führt nicht automatisch zu einer größeren Meinungsvielfalt. Auch dies eine Erkenntnis des Gerichts, aus der sich Konsequenzen für das Funktionieren des dualen Rundfunksystems ableiten. „Insbesondere die Werbefinanzierung stärkt den Trend zur Massenattraktivität und zur Standardisierung des Angebots.“ Pech für den Privatfunksektor, dass ausgerechnet im Umfeld der Urteilsdebatte die Vorgänge um die Senderfamilie ProSiebenSat.1 ausreichend Anschauungsunterricht für die Gültigkeit dieser These lieferten. Die Ergebnisse des voran schreitenden „Prozesses horizontaler und vertikaler Verflechtung auf den Medienmärkten“, zuletzt durch den Einstieg internationaler Finanzinvestoren, sind an der jüngeren Entwicklung etwa bei Sat.1 ablesbar: Massenentlassungen, Kürzung von Informationsprogrammen, Dominanz anspruchsloser Serienware. Nach Auffassung des Gerichts beschränkt sich die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht darauf, solcherlei „Marktversagen“ der Privaten zu kompensieren. Vielmehr müsse der Gesetzgeber die strukturellen Voraussetzungen dafür schaffen, dass gerade angesichts der von den Marktprozessen ausgehenden Gefahren für die Medienvielfalt der öffentlich-rechtliche Rundfunk – unter anderem durch ein sauberes Gebührenverfahren – seinen „klassischen Funktionsauftrag“ erfüllen könne.

Begrenzter Gestaltungsspielraum

Das Urteil läuft nicht, wie mancherorts missverstanden, auf einen Blankoscheck für die öffentlich-rechtlichen Anstalten hinaus. Es zieht nur klare Grenzen bei der Arbeitsteilung zwischen Anstalten und Politik. Der Gesetzgeber – in diesem Fall die Länder – haben die Rahmenkompetenz, allerdings innerhalb konkreter, dynamisch weiter entwickelter rundfunkstaatsvertraglicher Bestimmungen, nicht durch Interventionen im Gebührenverfahren. Den Anstalten wiederum obliegt es, den gesetzlich definierten Rundfunkauftrag zu erfüllen.
Doch wie konkret könnte dieser Auftrag aussehen? Einige Kommentatoren zeigten sich nach dem Urteil enttäuscht vom mangelnden Definitionsmut der Karlsruher Richter. epd-Medien-Chefredakteur Volker Lilienthal etwa vermisst Hilfestellungen für die Politik, „wie eine verfassungskonforme Auftragsdefinition aussehen könnte“. Zudem sei der Gestaltungsspielraum der Politik ohnehin begrenzt. Tatsächlich gestatten die Karlsruher Richter den Ländern, „in abstrakter Weise“ die Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu bestimmen. Die konkreten publizistischen Konsequenzen, die sich daraus für die Programme ergeben, müssten die Anstalten nach Auffassung des Gerichts selbst ziehen. Doch auch innerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems gibt es Zweifel, wie man Begriffe wie „Grundversorgung“, „Rundfunkauftrag“ oder gar „public value“ konkretisieren kann. „Was bitte ist der ‚Funktionsauftrag’ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“, fragt Deutschlandradio-Intendant Ernst Elitz. „Kultur, Information, Beförderung der gesellschaftlichen Diskussion, Volksmusik, Telenovelas, Krimireihen, Musik rund um die Uhr, Sport, Teilhabe aller am gesellschaftlichen und kulturellen Geschehen?“ Und gibt selbst die Antwort: „All das mag zutreffen. Aber die Politik muss da genauer definieren, wenn sie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von den kommerziellen Anbietern abgrenzen will.“
Dass eine solche Abgrenzung nötig ist, hat das Bundesverfassungsgericht eindeutig bejaht. Mehr noch: Es hat ausdrücklich vor den möglichen Folgen einer Kommerzialisierung der Öffentlich-Rechtlichen durch Werbung und Sponsoring gewarnt, nämlich der „Rücksichtnahme auf die Interessen der Werbewirtschaft, zunehmende Ausrichtung des Programms auf Massenattraktivität sowie Erosion der Identifizierbarkeit“. Ob die Politik diese Aufgabe jetzt in Angriff nimmt, bleibt abzuwarten. Bisher hat sie sich vor einer präziseren Definition jedenfalls gedrückt. Auch Lilienthal hält es für eine „schöne, aber eben auch naive, praxisferne Vorstellung, dass die Anstalten autonom entscheiden, was ihre verfassungsrechtliche Funktion ‚aus publizistischer Sicht erfordert’“. Es wäre schade, wenn die Öffentlich-Rechtlichen allzu siegestrunken zum „business as usual“ übergingen. Ein Indiz dafür, dass auch sie die Zeichen der Zeit erkannt haben, ist die Bereitschaft von ARD und ZDF, sich noch vor Inkrafttreten des 11. Rundfunkänderungsstaatsvertrags freiwillig einem „Public Value Test“ für neue oder veränderte Programmangebote zu unterziehen. Wie der im Einzelnen aussehen könnte, ist eine der medienpolitisch spannenden Fragen der nächsten Monate.

Chancen der Probephase nutzen

Die Öffentlich-Rechtlichen sind gut beraten, die Chancen zu nutzen, die diese Erprobungsphase bietet. Eine „unbegrenzte Expansion“ von ARD, ZDF und Deutschlandradio werde es im Internet jedenfalls nicht geben, mahnt vorsorglich Martin Stadelmeier, Chef der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei. Schon, um einem Dauerclinch mit dem VPRT vorzubeugen. Allerdings werde auch der Gesetzgeber nicht so unklug sein, bereits in der Probephase „einen Wald von Verbotsschildern zu errichten“. Interessant dürfte auch sein, wie die durchaus vorhandenen Widersprüche unter den Öffentlich-Rechtlichen selbst gelöst werden. Deutschlandradio-Chef Ernst Elitz hat bereits durchblicken lassen, dass er etwa ARD-Plänen für bundesweite, digitale Hörfunkkanäle für die Sparten Wissen, Kinder, Integration und Information äußerst reserviert gegenüber steht. Dies laufe auf eine Veränderung des Status quo hinaus, „und das in einer medienpolitisch sensiblen Situation“. Schließlich begreift sich Deutschlandradio im Rahmen der gesetzlich vorgegebenen öffentlich-rechtlichen Arbeitsteilung als allein zuständig für nationalen Hörfunk. Elitz plädiert auch für eine saubere Klärung des Begriffs „Public Value“. Und zwar durch den Gesetzgeber. Denn: „Die Definition solcher Begriffe kann nicht einem rhetorischen Wettbewerb oder allein der Selbstdefinition der Betroffenen überlassen bleiben.“

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