Das Wort „digital“ treibt Radiomachern hierzulande den Schweiß auf die Stirn. Denn der langjährige Versuch, mit dem Standard DAB digitales Antennenradio – kurz: Digitalradio – zu etablieren, erwies sich als ein teurer Schildbürgerstreich: wenig neue Programme und attraktive Zusatzinhalte, keine erschwinglichen DAB-Radiogeräte. Hinzu kam: Bei der Unübersichtlichkeit der Verbreitungsgebiete und der Startzeitpunkte sah kaum ein potentieller Hörer durch. Jetzt hoffen viele Programmanbieter, dass UKW als analoge Insel im digitalen Medienmeer bleibt. Tatsächlich stellt sich die Frage: Behält das Radio in der digitalen Zukunft seinen eigenständigen Übertragungsweg?
„Es bleibt dabei: DAB ist tot. Toter geht es nicht“, stellte Jürgen Doetz, Präsident des Verbandes Privater Rundfunk und Telekommunikation (VPRT), gleich zu Beginn der Medientage München Ende Oktober die Position der Privatfunklobby klar. Und das obwohl – oder gerade weil? – die Ministerpräsidenten fast zeitgleich auf ihrer Konferenz in Mainz die Weichen in Richtung Neustart des digitalen terrestrischen Radios stellten. Die Regierungschefs entschieden einstimmig über die Zuordnung der Übertragungskapazitäten für nationalen digitalen Hörfunk, über die in Zukunft bundesweit Radio im DAB Plus-Standard übertragen werden soll. Danach erhält das öffentlich-rechtliche Deutschlandradio ein Drittel der zur Verfügung stehenden Frequenzen und die Landesmedienanstalten können Lizenzen für zwei Drittel der Übertragungskapazitäten an Veranstalter bundesweiter Digitalradios vergeben. Außerdem einigten sich die Länder im Rahmen des 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrages darauf, dass die ARD-Landesrundfunkanstalten pro Land jeweils ein weiteres ausschließlich über Digitalradio plus verbreitetes neues Hörfunkprogramm veranstalten können. Im Klartext: Der Stein wurde ins Wasser geworfen. Medienpolitisch betrachtet steht einem Neuanfang des digitalen Antennenradios, das einmal UKW ablösen könnte, nichts im Weg. Ein Schritt nach vorn – aber auch nicht mehr.
Mittel für Neustart gekürzt
„Es ist zumindest ein Zeichen der Ermunterung“, bewertet denn auch der ARD-Vorsitzende Peter Boudgoust gedämpft euphorisch die aktuelle Lage. Und im Gegensatz zu VPRT-Chef Doetz lautet sein Fazit: „DAB und DAB Plus sind eben entgegen vielen Unkenrufen noch nicht tot. Und mir fällt ehrlich gesagt nicht ein, wie man stattdessen den digital-terrestrischen Hörfunk in Deutschland organisieren sollte. Umkehrt ist auch nicht vorstellbar, dass Deutschland eine analoge Insel bleibt. Also ich denke, es gibt einen neuen Schub in Richtung DAB Plus, ohne dass dies schon der Durchbruch wäre.“ Vom Durchbruch ist Digitalradio tatsächlich weit entfernt und offen ist, ob es sich jemals in Deutschland durchsetzen wird. Das jahrelange Scheitern der Einführung von DAB ist für die meisten Beteiligten Abschreckung genug.
Bereits 1986 wurden die technischen Voraussetzungen für die Übertragung im DAB-Standard geschaffen. Alle Bemühungen, Digitalradio seitdem als Alternative zu UKW zu etablieren, gingen jedoch weitgehend an den Hörern vorbei. Geschätzte 300 Millionen UKW-Empfänger stehen in deutschen Haushalten, maximal 500.000 DAB-Radiogeräte konnten dagegen seit ihrer Einführung verkauft werden – eine verschwindend geringe Zahl, die in keinem Verhältnis zu den Investitionen steht, die in die DAB-Technologie gesteckt wurden. Bis 2001 sollen es etwa 350 Millionen Euro gewesen sein, vor allem Gebührenmittel. Die Landesmedienanstalten griffen den privaten Veranstaltern mit einer Infrastrukturförderung unter die Arme. Nach Ablauf der Förderung zogen sich die Privaten jedoch aus der DAB-Übertragung zurück. 134 Millionen Euro haben die Öffentlich-rechtlichen im Rahmen der Rundfunkgebühr von 1997 bis 2008 zweckgebunden für ihre DAB-Aktivitäten erhalten.
Etwa 65 regional teils unterschiedliche Programme werden derzeit noch über DAB verbreitet. Wie lange noch, ist offen. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg hat angekündigt, zum Jahresende mit seinen sechs Wellen bei DAB auszusteigen, der Norddeutsche Rundfunk will seine Angebote vorerst nur bis April 2010 weiter über DAB laufen lassen. Der Hessische Rundfunk war gar nicht erst dabei. Den Hörer wird dies kaum stören, er bekommt es ja nicht mit. Doch es geht um mehr. Um nichts weniger, als die Zukunft des Mediums Radio im digitalen Zeitalter. Und die – so sagen viele – steht und fällt mit dem „richtigen“ Übertragungsweg. Für die letzten Unerschütterlichen ist es trotz allem immer noch DAB, vor allem aber der Nachfolgestandard DAB Plus. Hier können die Signale deutlich stärker komprimiert werden. Es ist möglich, mehr Radioprogramme im gleichen Frequenzband zu übertragen, daneben aber auch multimediale Anwendungen wie Grafiken, Bilder und Zusatzinformationen.
Aus Sicht der Digitalradio-Verfechter schlug die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (KEF) schließlich den letzten Sargnagel in das Projekt DAB. Sie kürzte die Mittel, die von der ARD für einen Neustart des Digitalradios angemeldet worden waren, von 140 Millionen Euro für den Zeitraum von 2009 bis 2012 um rund 90 Prozent. Genehmigt wurden 15 Millionen Euro für den Weiterbetrieb der bestehenden DAB-Sendeanlagen. Selbst die Weiterentwicklung zu DAB Plus würde die Situation nicht grundsätzlich verändern, sondern dazu führen, dass Besitzer derzeitiger DAB-Empfangsgeräte entweder nicht mehr versorgt würden oder zumindest an der Weiterentwicklung nicht teilhaben könnten, argumentierte die Gebührenkommission. Hörfunkempfänger für DAB Plus seien erst in Einzelexemplaren verfügbar, und es sei nicht zu erwarten, dass solche Empfänger speziell für den deutschen Markt entwickelt würden. Daneben stellte die Kommission allerdings weitere 42 Millionen Euro in Aussicht für ein neu zu beantragendes Entwicklungsprojekt. „Wenn es gelingt, dass es in absehbarer Zeit einen Neuansatz gibt für die Digitalisierung des Hörfunks, dann zwingen wir die Gebührenzahler dazu, Geld zu zahlen“, erklärte KEF-Mitglied Ulrich Reimers. „Dieses Geld kann dann genutzt werden, wenn es eine neue Projektanmeldung für eine neue Digitalisierung des Hörfunks gibt, die wir dann natürlich wieder kritisch prüfen müssen.“ Voraussetzung für eine Befürwortung sei aber, dass das Projekt auf einem deutschlandweiten Konsens auch mit privaten Programmanbietern und Herstellern von Endgeräten beruhe, hieß es weiter aus der KEF.
Der geforderte Konsens kam nie zustande. Im Juni dieses Jahres sprach sich der VPRT gegen eine für den Herbst 2009 geplante Einführung von DAB Plus aus. Die Begründung: Die im VPRT organisierten Radiounternehmen bewerten das System DAB Plus als nicht Markt getrieben. Selbst bei maßgeblicher Förderung durch öffentliche Gelder und unter regulatorischem Druck sehe man für die nächsten fünf bis zehn Jahre nur geringe Chancen auf eine Teil-Refinanzierung aus dem Markt, sprich durch Werbeeinnahmen. Im Juli kam die Antwort der KEF. Man werde die Mittel für die DAB-Projektanträge der ARD und des Deutschlandradios nicht freigeben. Wesentliche Teile der von der KEF in Abstimmung mit den Rundfunkanstalten aufgestellten Kriterien seien nicht erfüllt worden, allen voran die Bedingung, dass die Privaten mit im Boot seien. „Ein schwarzer Tag für die Digitalisierung des Hörfunks“ kommentierte der Hörfunkbeauftragte der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten (ALM) und Direktor der Landesmedienanstalt Saarland, Gerd Bauer, die KEF-Entscheidung.
Multimediale Visionen
Für die KEF scheint das Ende der DAB-Familie definitiv zu sein. Zur diesjährigen Internationalen Funkausstellung in Berlin konstatierte Ulrich Reimers: „Man soll sich der Tatsache bewusst sein, dass eine Ablösung des UKW-Hörfunks durch einen neuen digitalen Hörfunk-Weg einfach nicht mehr stattfinden wird. Ein eigenständiger, separater Verbreitungsweg ist ein Traum.“ Allerdings räumte er ein: „Digitale terrestrische Hörfunkübertragung auf ganz vielen Wegen über Mobilfunknetz, über mobile Internetzugänge, sei es aber auch über digitale Fernsehnetze ist natürlich zu diskutieren.“
Vor allem Letzteres ist Wasser auf die Mühlen der vielen Kritiker von Digitalradio. Als man DAB auf den Weg brachte, gab es weder Internet noch Mobiltelefone. DAB war als Ersatz für UKW geplant. Inzwischen – und damit hatte die KEF bei ihren jüngsten Entscheidungen gegen DAB auch argumentiert – gibt es viele andere Wege, über die Hörfunk verbreitet werden kann: über das Internet, Satellit, DVB-T oder über Mobiltelefone. Genau darauf setzt auch der VPRT. „Unsere Vision wäre, dass wir einen multimediatauglichen Standard nutzen können, auf dem sich auch digitales Radio wieder findet“, sagt Ursula Adelt, Geschäftsführerin des VPRT. „Er muss IP-fähig sein. Das große Stichwort lautet hybrid, auf das unsere Fernsehleute jetzt auch setzen. Alle Geräte werden hybrid, das heißt sie sind für Rundfunk und Internet. Und da darf das Radio mit seinen Geräten, die es für seine Gattung anbietet, nicht zurückstehen.“
Auch Hans Hege, Chef der Medienanstalt Berlin-Brandenburg und Beauftragter für Plattformregulierung und Digitalen Zugang der ALM, geht davon aus, dass Radio keinen eigenen Übertragungsweg in der digitalen Welt haben wird. „Die Entwicklung aller digitalen Medien und aller digitalen Übertragungswege zeigt, dass die Digitalisierung nicht eine Verlängerung der analogen Welt ist, sondern grundlegende Änderungen auslöst“, so Hege. „In der digitalen Welt gibt es viele Übertragungswege, und viele Plattformen, auf denen audiovisuelle Inhalte verbreitet werden können.“ Der bisherige Ansatz eines isolierten Digitalisierungskonzepts für den Hörfunk müsse aufgegeben werden. „Der Einsatz eines auf nur eine Anwendung zugeschnittenen Systems ist immer weniger zeitgemäß“, konstatiert auch die Wirtschaftsingenieurin Kirsten Matheus, die sich auf Technologiemanagement spezialisiert hat. Und tatsächlich verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen den Übertragungssystemen.
Neue Player im Internet
Hörfunk empfangen heute schon viele über verschiedene Wege jenseits des klassischen UKW-Sendernetzes, zum Beispiel als Webstream. Gleichzeitig dringen im Internet neue Player auf den Markt, die sich zu einer echten Konkurrenz zu etablierten Radiosendern entwickeln könnten. Geschätzte 1.700 Webradios gibt es in Deutschland, weltweit sollen es 12.000 und mehr sein. Web- oder Internetradios, also Sender, die ihre Programme als komprimierten Datenfluss über das Netz verbreiten, sind oft Nischenprogramme, die privat, ehrenamtlich und nicht-kommerziell betrieben werden. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Nutzer von Webradios von 10 Millionen im vergangenen Jahr auf 14 Millionen Hörer im Jahre 2010 wachsen wird.
Umso wichtiger scheint es für die „klassischen“ Anbieter zu sein, Klarheit über ihre technische Zukunft zu erlangen. Denn auch die Ausstrahlung im „Huckepack“-Verfahren, quasi als Anhängsel des Internets oder von Fernsehstandards, birgt offene Fragen. „Am schwierigsten ist der Aspekt Erreichbarkeit in der Fläche“, so die Wirtschaftsingenieurin Kirsten Matheus. Sie hält zwar eine flächendeckende Versorgung in Gebäuden mit Internetradio für möglich. Auch der mobile Empfang von digitalem Radio wäre über DVB-T realisierbar. Die mobile Versorgung außerhalb von Ballungsgebieten dagegen würde Infrastruktur-Investitionen erfordern. Flächendeckende Mobilfunknetze oder ein entsprechender Ausbau der DVB-T-Infrastruktur wären vonnöten. Matheus plädiert dafür, für alle Übertragungswege portable Endgeräte anzubieten und dann zu schauen, welche Nutzungsgewohnheiten sich herauskristallisieren. Nach dem Motto: Mal abwarten, was am besten ankommt. Für Medienwächter Hans Hege hingegen ist die Politik gefragt. Für technologiepolitische Entscheidungen sei Eile geboten. Die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen könne nicht „in der Isolation des Hörfunks liegen, sondern in der Nutzung der Zusammenhänge, die die Digitalisierung bietet.“
Schnellstens neue Radiogeräte
In den Ohren der DAB-Verfechter verhallt dies weitgehend ungehört. „Wir werden in Zukunft einen Mix von unterschiedlichen Übertragungswegen haben und das auch für Hörfunk“, räumt der Radioexperte Helmut G. Bauer zwar ein. Und fügt hinzu: „Auf einen Umstand möchte ich allerdings hinweisen: Ich glaube, dass wir unbedingt terrestrisches Digitalradio in diesem berühmten Frequenzspektrum VHF brauchen, damit jedermann jederzeit die Möglichkeit hat, Radio zu hören. Radio zeichnet sich ja dadurch aus. So haben die Leute Radio kennen gelernt, dass sie jederzeit und überall auf einen Knopf drücken und dann etwas empfangen können.“ Teile der Medienregulierung und der Rundfunkanbieter pflichten ihm bei. Die Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) forderte die Bundesländer auf, einen verbindlichen Fahrplan zur Einführung der digitalen Radio-Übertragungstechnik DAB Plus zu entwickeln.
Auch Teile der privaten Hörfunkanbieter halten – anders als der VPRT – ein Gelingen von DAB Plus noch für denkbar. Zum Beispiel Erwin Linnenbach, Sprecher der Regiocast, einer Beteiligungsgesellschaft, die Anteile an vielen Radiosendern in mehreren Bundesländern hält. Linnenbach geht davon aus, dass sich etliche Programmveranstalter für die neu auszuschreibenden DAB Plus-Frequenzen bewerben werden. Allerdings fordert er öffentliche Mittel für eine neue Infrastruktur und die flächendeckende Einführung neuer Radiogeräte. Schnellstmöglich müssten UKW-Empfänger durch DAB-taugliche Geräte ersetzt werden, um relevante Hörerzahlen zu erreichen – eine wirtschaftliche Voraussetzung für den werbefinanzierten Rundfunk. Der ARD-Vorsitzende Boudgoust glaubt fest daran, dass sich neben dem Bayrischen Rundfunk auch andere Landesrundfunkanstalten der ARD wieder stärker für DAB und DAB Plus engagieren werden. „Es gibt eine Annäherung und da bin ich ganz zuversichtlich“, so Boudgoust. Und sagt entschlossen: „Radio braucht einen originären Übertragungsweg. Sonst wäre es nicht mehr das, was Radio in seiner Wirkungsmacht darstellt.“