Intensität der Berichterstattung und Beteiligung an der Wahl des Europäischen Parlaments – ein kausaler Zusammenhang?
Die auf Podiumsveranstaltungen beliebte Frage nach der fehlenden europäischen Öffentlichkeit endet gern in gegenseitigen Schuldzuweisungen der Medienschaffenden und ihrer Kunden. Warum berichtet Ihr nicht mehr aus Europa? fragen die Leserinnen und Zuschauer. Warum interessieren Euch gesamteuropäische Themen wie Energiesicherung, Antiterrorkampf oder Krisenintervention so wenig? antworten die Redakteure und Autorinnen. Stellt man die Frage andersherum: Warum gibt es keine Öffentlichkeit für europäische Themen? ist das Ergebnis auch nicht befriedigender. Die Suche nach Henne und Ei, also danach, wer für die Ignoranz verantwortlich ist, bleibt ungeklärt.
Aus gegebenem Anlass, der Europawahl, erfreut sich das Thema Europa und seine stiefmütterliche Behandlung in den Medien gerade wieder großer Beliebtheit. Im Februar wussten nur 16 Prozent der Deutschen, dass die Wahl Anfang Juni stattfinden würde. Die EU-Länder können sich nicht auf einen gemeinsamen Tag einigen, was die Sache ja nicht übersichtlicher macht. Die 99 deutschen Europaabgeordneten werden am 7. Juni gewählt. Die Frage, die sich hier prompt anschließt, lautet: Werden die wenigen, die das bis dahin zur Kenntnis genommen haben, auch zur Wahl gehen? Und wer ist dafür verantwortlich, wenn sie es nicht tun?
Man ahnt schon, was Leser und Zuschauer auf diese Frage antworten. Die Medien sind natürlich Schuld, wenn die Wahlbeteiligung europaweit noch unter den Tiefpunkt von 47,7 Prozent rutscht, der 2004 erreicht war. In Deutschland gingen vor fünf Jahren nur noch 45 Prozent wählen – damit wurde der Tiefststand von 1999 (45,2 Prozent) noch unterboten. 1994 wurde gemessen daran noch die Traumquote von sechzig Prozent erreicht. Bei Bundestagswahlen sind bis heute knapp achtzig Prozent Wahlbeteiligung die Regel.
In vielen medienwissenschaftlichen Untersuchungen wird zwischen Wahlbeteiligung und Intensität der Berichterstattung ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt. So zitiert die Bundeszentrale für Politische Bildung auf ihrer Webseite aus einer quantitativen Inhaltsanalyse der Jahre 1979 bis 2004. In diesem Zeitraum, so das Ergebnis fleißig messender Studenten, hätten sich rund vier Mal so viele Zeitungsartikel mit der Bundestagswahl beschäftigt wie mit der Europawahl.
Schlechte Quoten
Die Frage nach der Henne und dem Ei stellen die Forscher gar nicht. Für sie ist klar: Da wenig berichtet wurde, blieb das Interesse eben gering. Die Verantwortung dafür, dass die Wahlberechtigten ihr Wahlrecht wahrnehmen, liegt bei den Medienmachern. Man könnte ketzerisch zurückfragen: Wenn die Medien Europathemen nur 28 Prozent des Platzes einräumten, den sie mit bundespolitischen Themen füllten, warum gingen dann immerhin noch mehr als die Hälfte der Bundestagswähler zur Europawahl? Und selbst wenn es einen Zusammenhang geben sollte – gibt es auch eine moralische Verantwortung der Medienschaffenden für das Wahlverhalten ihrer Leser?
Die Forscher unterfüttern ihre Argumentationskette mit Leser- und Zuschauerbefragungen. Laut Eurobarometer vom Herbst 2007 sind 48 Prozent der Europäer der Meinung, im Fernsehen werde zu wenig über die Europäische Union berichtet. Von den Printmedien fühlt sich jeder Dritte schlecht über Europa informiert. Auch hier muss es den Produzenten und Verkäufern journalistischer Inhalte gestattet sein, zurück zu fragen: Wenn das Interesse so gewaltig ist, warum haben Sendungen über Europapolitik so schlechte Quoten? Warum sind die entsprechenden Artikel in den Online-Auftritten der Zeitungen so unpopulär, was sich an den beklagenswert wenigen Klicks gut ablesen lässt?
Kann es sein, dass die Befragten mehr EU-Berichterstattung einfordern, weil sie glauben, dass das politisch zum guten Ton gehört, auch wenn sie sich in Wahrheit mehr für die Abwrackprämie interessieren, sich danach dem Sportteil zuwenden oder den neuesten Eskapaden von Madonna in Malawi? Es ist ja kein Zufall, dass es Günter Verheugens Nacktspaziergang am Litauer Strand auf den Titel der Bildzeitung schafft, die von der deutschen SPD in den Verhandlungen mit dem EU-Parlament blockierte maximale Wochenarbeitszeit von 48 Stunden aber nicht.
Unbestritten ist: Bedeutende Politikfelder wie Immigrationspolitik oder Klimaschutz haben sich auf die Europäische Ebene verlagert. Deshalb müssen seriöse Medien stets aufs Neue versuchen, ihre Leser für diese Inhalte zu interessieren und die zu Grunde liegenden Entscheidungsprozesse zu erklären. Wer europäische Politik verstehen will, kommt aber ohne ein Mindestmaß an Vorbildung über die Institutionen und den gesetzgeberischen Prozess nicht aus. Diese Bringschuld erfüllen die meisten Leserinnen und Zuschauer nicht. Sie erwarten, dass ihnen in jedem Artikel über die EU aufs Neue erklärt wird, welche Aufgaben der Ministerrat hat und nach welchen Regeln ein Gesetz die Gremien durchläuft. Diese Vorgabe ist ein Quotenkiller. Würde man bei jedem Artikel über die Abwrackprämie oder die Gesundheitsreform zunächst erklären, wer sie auf welcher gesetzlichen Grundlage beschließen darf und welchem Gremium Ulla Schmidt angehört, würde sich bald auch keiner mehr für Berliner Politik interessieren.
Ohne den Schwarzen Peter weiter schieben zu wollen, ist doch festzustellen: Schulen, Elternhäuser, aber auch Redakteure in den Heimatredaktionen, Leser und Zuschauer müssen sich intensiver mit den Grundlagen der Europäischen Union befassen, wenn sie mehr Spaß an EU-Berichterstattung haben wollen. Erst in einem zweiten Schritt kann die Berichterstattung selber politischer, pfiffiger, auch stärker an Personen orientiert daherkommen. Solange die Leser die wichtigsten Köpfe auf europäischer Ebene nicht zuordnen können, macht eine stärker an den politisch Handelnden orientierte Berichterstattung keinen Sinn.
Pflichtberichterstattung
Davon völlig unabhängig ist die Grundsatzfrage, ob Medien im demokratischen Kontext die Aufgabe haben, ihre Leser und Zuschauer zur Teilnahme an der Wahl zu motivieren. Ob sie also einen bestimmten Anteil an EU-Pflichtberichterstattung selbst dann bringen müssen, wenn das bei den Nutzern auf wenig Gegenliebe stößt. Für Medien an der Schnittstelle zur politischen Bildung wie die aus Steuermitteln finanzierte Wochenzeitung „Das Parlament“ oder für die gebührenfinanzierten Programme von ARD und ZDF lässt sich diese Frage sicherlich bejahen. Andere Medien müssen sich aber nicht dafür einspannen lassen, die Europamüdigkeit der Wähler durch pädagogisch-mahnende Informationen oder bemüht-positive Erfolgsstories zu senken.
Dennoch übernehmen zumindest die Zeitungen mit politischem Anspruch diese Aufgabe ganz selbstverständlich. Vor Europawahlen steigt die Nachfrage der Redaktionen nach erklärenden Texten, Porträts, Interviews und Kommentaren über Europa deutlich an. Gerade so, als fiele den Blattmachern alle fünf Jahre einmal ein, dass es Europa gibt. Ein Teil dieser Anfragen erklärt sich daraus, dass Redakteure gern Anlassjournalismus betreiben. Auch vor EU-Gipfeln werden mehr Texte über EU-Themen bestellt – ganz egal, ob die Regierungschefs etwas Spannendes auf der Tagesordnung haben oder nicht.
Doch unabhängig von dieser Anlass-Logik wird der Brüsseler Korrespondent vor einer Europawahl auch häufiger angerufen, weil sich jeder Redakteur dem staatsbürgerlichen Bildungsauftrag verpflichtet fühlt. Man müsse die Wähler auf die Wahl aufmerksam machen und sie möglichst zur Teilnahme daran ermutigen, das ist unter den Blattmachern Konsens. Wenn sogar sie diese Verantwortung nicht hinterfragen, ist es kein Wunder, dass es die Europäischen Institutionen erst recht nicht tun. Es vergeht keine Woche, in der nicht junge Forscher aus ganz Europa an die Bürotüren der Brüsseler Korrespondenten klopfen oder per e-mail Fragebogen verschicken. Ihr Erkenntnisinteresse reduziert sich im Wesentlichen darauf, warum so wenig über die EU publiziert wird, warum negative Meldungen besser laufen als positive, und was die EU-Kommission tun kann, um an dieser Lage etwas zu ändern.
Manuel Barroso hat aus dem Image-Desaster seines Vorgängers Romano Prodi den Schluss gezogen, dass er sich nicht in linkischer Pose in der Öffentlichkeit zeigen oder mit kritikwürdigen Entscheidungen zitieren lassen wird. Sein im Vergleich zur Vorgänger-Kommission gigantisch aufgeblähter Mediendienst widmet sich vor allem der Aufgabe, ihren Chef gut aussehen zu lassen und positive Nachrichten über die EU und ihr Personal unter die Korrespondenten zu bringen.
Das Resultat rechtfertigt den Aufwand nicht. Es geht kein Rauschen durch den europäischen Blätterwald, wenn die Handygebühren im Ausland sinken oder eine EU-Medicart vorgestellt wird, die Behandlungen im Ausland erleichtern soll. Auch wenn die Verbraucherschutzkommissarin dafür sorgt, dass die Websites der Fluglinien nicht mehr mit Niedrigpreisen locken dürfen, in denen die Steuern und Gebühren nicht enthalten sind, hält sich die Begeisterung der EU-Korrespondenten in engen Grenzen. Wenn hingegen Barroso auf der Yacht eines befreundeten Unternehmers Gratisurlaub macht oder das EU-Parlament seine Pensionskasse aus Steuermitteln aufstocken will, ist das Medienecho deutlich größer.
Mehr Transparenz
Deshalb wird der Wissenschaftlernachwuchs aus den kommunikationswissenschaftlichen Instituten – mit EU-Mitteln gefördert – immer wieder nach Brüssel geschickt, um herauszufinden, warum Europa so eine schlechte Presse hat und was sich daran ändern lässt. Die Antwort ist denkbar einfach: Bessere Politik und mehr Transparenz würden den Institutionen intensivere und freundlichere Berichterstattung bescheren. Journalisten mögen es nicht, wenn sie für eine vorgeblich gute Sache eingespannt werden, die sie oft nicht selbst überprüfen können.
Der Vorbehalt dagegen, die Leser und Zuschauer zur Beteiligung an der Europawahl aufzurufen, speist sich aus demselben Unbehagen. Es ist nicht nur kompliziert, den Wählern zu erklären, dass sie nach den Spielregeln des Nizza-Vertrages abstimmen und vielleicht später nach den Spielregeln des Lissabon-Vertrages regiert werden. Es ist auch unerfreulich. Es ist inzwischen sieben Jahre her, dass die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel von Laeken ihren Wählern mehr Transparenz und Demokratie auf europäischer Ebene versprachen. Mit unglaublichem Enthusiasmus beteiligte sich die Zivilgesellschaft europaweit am EU-Konvent für eine Verfassung.
Davon ist nicht viel übriggeblieben. Zwar hat der Lissabon-Vertrag wesentliche Elemente aus der Verfassung übernommen. Doch er ist noch verklausulierter, noch schlechter geordnet und weniger lesbar, als es die sogenannte Verfassung war. Warum also sollte ein EU-Berichterstatter, der den Traum vom demokratischen Europa noch nicht aufgegeben hat, unter diesen Bedingungen zur Wahl aufrufen? Wäre es nicht besser, die Wahlbeteiligung würde weiter sinken und dieses Desinteresse an Europa von den Regierungen als Warnsignal verstanden? Zu den Zugeständnissen von Laeken rafften sich die damals 15 EU-Staaten nur auf, weil Europa die Wähler davonliefen. Zwischen 1994 und 1999 war die Wahlbeteiligung um 20 Prozent gesunken. Kämen die Bürger nun in Scharen zurück, obwohl das Versprechen nach mehr Demokratie nicht eingelöst ist, wäre das ganz sicher die falsche Botschaft.