Kölner Symposium: Protagonisten im Dokumentarfilm
Die Medien haben einen neuen Protagonistentypus geprägt. Der moderne dokumentarische Filmheld schauspielert vor der Kamera, klagt Rechte ein, stellt Geldforderungen und setzt mitunter auf den Spaßfaktor. Den Konfliktstoff, der auf Dokumentarfilmer zukommt, diskutierten Medienexperten in Köln.
Die Fußbroichs sind undankbar. Statt die Freiheit des kaum durchinszenierten Formats der gleichnamigen WDR-Familien-Dokusoap-Serie Ute Diehls zu genießen, hätten sie sich beklagt: „Wieso ist die Diehl so langweilig und macht mit uns nicht solche Geschichten wie bei Big Brother?“ Nach dem Anlaufen des Container-Formats seien ihre Protagonisten nicht mehr wieder zu erkennen gewesen, so die Regisseurin beim Pannel zum Thema „Dokumentarischer Fokus: Familien und Angehörige“ weiter: Stars seien sie jetzt und wollten auch CDs machen, habe die Kölner Arbeiterfamilie gefordert. Als „Spaßbremse“ sei sie, Diehl, empfunden worden.
Die Unschuld verloren
Mit der Formatierung dokumentarischer Programme habe sich die Rolle der Protagonisten verändert, konstatierte der Medienjournalist Fritz Wolf: Das redaktionelle Konzept sei an Stelle der Autorenidee getreten. In der Folge seien Protagonisten in den neu geschaffenen Formaten zu „Menschen in Versuchsanordnungen“ entwickelt worden. Als aktuelles Beispiel dafür, wie Medien sich in die Privatsphäre von Menschen einschalteten, führte Wolf den Fall Natascha Kampusch an. Auf diese Weise werde Medienrealität geprägt, mit der sich Dokumentarfilmer auseinander setzen müssten, so die These beim dreitägigen Symposium in Köln unter dem Titel „Protagonisten im Dokumentarfilm“.
Als Folge solcher Erfahrungen und zunehmender Medienkompetenz hätten Protagonisten des Dokumentarfilms ihre Unschuld verloren. Einen Weg zurück zur bloßen Beobachtung des Realen und Wahrhaftigen werde es vermutlich nicht mehr geben. Darüber waren sich Medienwissenschaftler, Dokumentarfilmerinnen, Filmproduzentinnen und Förderer, sowie Redakteure des öffentlich-rechtlichen Fernsehens weitgehend einig. Der Lehrsatz „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“ aus Johann Wolfgang von Goethes „Zauberlehrling“ schien Motto der Veranstaltung der Dokumentarfilminitiative, des Filmbüros NW, des Hauses des Dokumentarfilms Stuttgart, des Filmhauses Köln und der AG DOK.
„Ich gehöre zur Generation der Medienkinder und habe keine Probleme, mich mitzuteilen“, textete Oliver Schwabes junger Protagonist Ben M. („Wenn das Leben eine Zitrone ist“, NDR, 2002, s. Foto) fröhlich sein Publikum zu. Schwabe würde sich seinen Protagonisten „authentischer“ wünschen. Doch auch Autoren, die nicht über den Selbstdarstellungseifer der neuen Spaßgeneration stöhnen, sind im Verhältnis zu ihren Protagonisten nicht immer sorgenfrei. Zunehmende „Verrechtlichung“ macht zu schaffen. Mehrseitige von Protagonisten unterzeichnete Formulare fordern Sender von Autoren ein. Und stoßen damit auf wenig Gegenliebe. Leute bekämen Angst, verlören ihre Unbefangenheit vor der Kamera, argumentiert Karin Jurschick („Die Helfer und die Frauen“, 2003). Autor Thomas Heise konstatierte „zunehmende Juristerei“, die Verhältnisse industrieller Massenproduktion und den Warencharakter des Genres Dokumentarfilm signalisiere. Einzig um Vermarktung gehe es. Die ursprüngliche Basis aber, das Vertrauensverhältnis zwischen Autor und Protagonist, bleibe auf der Strecke.
Positivbeispiele von Protagonisten gibt es nach wie vor. Sebastian Winkels („7 Brüder“, 2003) hat Glück. In einem eigens dafür geschaffenen Erzählraum im Filmstudio lieferten die sieben Brüder Hufschmid, zwischen 1929 und 1945 im Ruhrgebiet geboren, in jeweils einem achtstündigen Erzählmarathon ein Dokument der Zeitgeschichte. Autor Winkels hat – wie er sagt – bewusst nicht in Wohnzimmern gedreht. Sein Protagonist Hannes Hufschmid reagiert auf das mediale Experiment gut gelaunt: „Als erster habe ich in einer Firma die Initiative ergriffen, einen Betriebsrat zu gründen, im Ortsverein der SPD bin ich, und habe vier Kinder großgezogen – was soll mir schon noch passieren?“
Konstatiert wird allerdings auch ein Trend zum generellen Verzicht auf Protagonisten. Andres Veiel in „Der Kick“ (2006) und Calle Overweg in „Das Problem ist meine Frau“ (2004) griffen auf schauspielerische Leistung zurück (Bild unten). Beide Filmer sind der Meinung, durch die Abstraktion erst recht „größeren Realitätsgehalt“ und eine dichtere Erzählstruktur zu erreichen. Der Fokus könne auf diese Weise präziser auf das gesellschaftliche Umfeld gelenkt werden und sogar „Welthaltigkeit“ (Overweg) signalisieren.
Das Widerspenstige erhalten
Nicht nur „Welthaltigkeit“, sondern auch Wehrhaftigkeit ist nach wie vor gefragt. Couragierte Autorinnen wie Aelrun Goette („Die Kinder sind tot“, 2003) setzen sich für Wortbeiträge ihrer Protagonisten und politische Unabhängigkeit ein. Auch wenn dies nicht immer einfach sei. Die Autorin konstatiert, dass man in der DDR, wo sie her kommt, immer gewusst habe, wo der Zensor sitzt. Hierzulande hingegen gäbe es niemals politische Auseinandersetzungen, bemerkt sie ironisch: „Im Zweifelsfall wird ein dramaturgischer Fehler behauptet“. Die Dokumentarfilmerin Gabriele Voss verwahrte sich dagegen, „das Widerspenstige abspalten zu müssen, das jede Person hat“. Sie wolle nicht gezwungen sein, Protagonisten in ein redaktionelles Konzept zu pressen. Auch Autor Peter Heller wünschte sich den Redakteur „weniger als Zensor, der mir diesen oder jenen Typen ausreden will, um die vom Sender erwartete Zuschauerquote zu erreichen“. Partnerschaftliches Erarbeiten des Filmkonzepts erwarte er. Entsprechende Töne waren aus redaktioneller Sicht zu vernehmen. Christian Baudissin (BR, Redaktion Dokumentarfilm, München) ging etwa auf den Missstand ein, dass Redaktionen beim Einreichen des Exposés vom Autor stets unbezahlte Vorleistungen erwarteten. Dennoch: Der Redakteur müsse bereits beim Filmskript „etwas spüren“ können.