Grabenkämpfe um öffentlich-rechtliche Apps
Als die ARD Ende des vergangenen Jahres eine kostenlose Tagesschau-Application für das iPhone ankündigte, war der Protest groß: Viele Verlage sahen darin ein weiteres Beispiel aus der Digitalwelt dafür, dass das Online-Engagement der öffentlich-rechtlichen Sender den Markt verzerrt.
Denn während die Sender sich vorwiegend über Gebühren finanzieren, können hingegen Verlage im digitalen Umfeld kaum kostendeckend arbeiten. Die Kosten von rund 30.000 Euro, die die Tagesschau-Redaktion angeblich für die Entwicklung kalkuliert, müssen Verlage erst einmal erwirtschaften.
Im Focus malte Springer-Chef Matthias Döpfner, der eben erst kostenpflichtige Apps an den Markt gebracht hatte, gleich ein Schreckensszenario an die Wand: „Wenn sich bezahlte Applikationen auf mobilen Geräten nicht durchsetzen, wird dies Tausende Arbeitsplätze in der Verlagsbranche kosten.“ Die Verleger forderten daher, die geplante iPhone-App explizit einem Drei-Stufen-Test zu unterwerfen. Der NDR-Rundfunkrat hingegen erklärte, dass dies nur dann nötig sei, wenn die Inhalte von der Website Tagesschau.de abweichen würden. Martin Stadelmaier, Leiter der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz und Chefkoordinator der Rundfunkpolitik der Länder, sagte angesichts des Hickhacks wohlweislich, dass Apps als „Software für bestimmte portable Geräte“ besser im Prüfkonzept von Tagesschau.de genannt worden wären.
Seit kurzem scheint die Streitfrage geklärt zu sein – mit Hilfe von Brüssel. In einer Antwort auf eine Anfrage der liberalen Europa-Abgeordneten Silvana Koch-Mehrin erklärte EU-Kommissar Joaquin Almunia, dass die Apps-Frage national geklärt werden müsse. Dabei verwies er auf die Rundfunkmitteilung der Kommission aus dem Jahr 2009. Demnach dürfen Sender staatliche Beihilfen, also auch Rundfunkgebühren, verwenden, um neue audiovisuelle Dienste auf neuen Verbreitungsplattformen einzusetzen. Der zuständige NDR-Rundfunkrat fühlte sich nach dieser Auskunft aus Brüssel angesichts der Diskussion in Deutschland „wie auf einem anderen Stern“, sagte seine Vorsitzende Dagmar Gräfin Kerssenbrock. Im Übrigen decke das Telemedienkonzept der ARD den Plan für eine Tagesschau-App ab, da es „sämtliche relevante Distributionswege“ erlaube.
Laut Kerssenbrock entspricht das Konzept auch dem Rundfunkstaatsvertrag. Plant ein Sender, ein bestehendes Angebot auf einer neuen technischen Plattform anzubieten, muss er dies in seinen Programmrichtlinien festhalten. Diese Richtlinien müssen dann im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens für Telemedien genehmigt werden. Kerssenbrock wies darauf hin, dass die entsprechenden Richtlinien bereits mit der EU-Kommission abgestimmt sind. Darin heißt es, dass „ein neues oder verändertes Angebot“ dann nicht vorliegt, wenn bestehende „Telemedien auf neuen technischen Verbreitungsplattformen“ verbreitet werden sollen oder wenn sie „im Zuge der technischen Entwicklung auf bereits bestehenden Plattformen“ weiterentwickelt werden. Das heißt: Wenn die Tagesschau-App etwa nur Inhalte hätte, die bereits auf der Tagesschau.de-Website verfügbar wären, wäre eine gesonderte Prüfung nicht nötig.
Viel Spielraum
Der eigentliche Zündstoff liegt damit aber im Genehmigungsverfahren für das Online-Konzept der Website – und hier scheint sich die ARD sehr viel Spielraum verschaffen zu wollen: Im Februar wurde bekannt, dass der NDR-Rundfunkrat die Website als „eigenständiges“, „nicht-sendungsbezogenes“, „multimediales“ Telemedium im Drei-Stufen-Test behandeln will. Durch den Begriff „multimedial“ würde sich Tagesschau.de aber von „presseähnlichen Angeboten“ so weit absetzen, dass nicht mehr darauf geachtet werden müsste, ob einzelne Angebotsteile doch presseähnlich sind. Außerdem könnten neue Elemente ohne weitere Prüfung der Website hinzugefügt werden. Dafür wäre reichlich Luft: So soll der Jahresetat von Tagesschau.de innerhalb von vier Jahren um 50 Prozent von 4,1 auf 6,1 Millionen Euro steigen.
Bis Ende August wird über Tagesschau.de die Entscheidung zu fällen sein. Aus der Tagesschau.de-Redaktion ist unter der Hand zu hören, dass sie bis Juli die Telemedienkonzepte „unter Dach und Fach“ bringen und dann verschiedene Apps für das iPhone-Handy, den brandneuen Tablet-PC iPad und den Blackberry veröffentlichen will. Die Tagesschau wird aber nicht die erste Redaktion der Öffentlich-Rechtlichen mit eigenen Apps sein: Zahlreiche ARD-Radiostationen bieten bereits ähnliche Anwendungen an, vornehmlich damit Smartphone-Nutzer ihre Sendungen über UMTS empfangen können.
Zu den kostenlosen iPhone-Apps gehört etwa die MDR-App „Sputnik 2“ (http://itunes.apple.com/de/app/mdr-sputnik-web-radio-2/id334670094?mt=8#). Damit können Nutzer das Radioprogramm per iPhone empfangen, Videos abrufen, Podcasts abonnieren und ab und zu auch einen Video-Livestream verfolgen – für den HR3 gibt es eine ähnliche App (http://itunes.apple.com/de/app/hr3/id338537892?mt=8). In beiden Fällen haben nicht die Sender selbst die App in den AppStore geladen, sondern ein Berliner Medienproduzent, der die Apps im Auftrag der Sender erstellt hat. Mit der App „MDR Jump“ erhalten Nutzer den Jump-Livestream sowie vier themenbezogene Channels. Einen Extra-Service liefert „MDR Jump“ mit bundesweit aktuellen Verkehrsinformationen, Staus und Blitzern für den Standort bzw. die Route des Nutzers (http://appshopper.com/music/mdr-jump). Im Vergleich zum Online-Angebot besteht die Neuerung in der ortsbezogenen Informationsauswahl. Auch eine Videofunktion ist integriert: „MDR aktuell“ informiert den Nutzer „kompakt und fortlaufend aktualisiert“.
Der SWR zeigt sich ebenfalls up to date: Die App des Jugendkanals „Das Ding“ (http://appshopper.com/music/dasding-radio) hat nicht nur ein ähnliches Portfolio wie „MDR Jump“, sondern hat auch noch einen Wetterdienst integriert, ebenfalls mit ortsbezogenen Daten. Die „BR-Radio“-App (http://appshopper.com/ music/br-radio) bietet die Radiostationen des Bayerischen Rundfunks, ergänzt diese mit Cover-Bildern und Songtexten – über „modernste Mashup-Methoden“. Kombiniert wird das mit „smarten Einschlaf- und Weckfunktionen“. Die App des SWR3-Elchradios (http://itunes.apple.com/app/ swr3-elchradio/id322077464?mt=8) konnte auf iPhone-spezifische Gimmicks nicht verzichten: Kippt der Nutzer das iPhone hin und her, ertönt ein Elch-Möhen.
Zu den weiteren Angeboten der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten für Handys gehören aber auch Webseiten wie mobil.ard.de oder m.zdf.de, die für kleine Displays optimiert sind. Hier finden sich bei der ARD Tagesschau oder Sportschau mit Texten, Bildern und für den mobilen Abruf optimierte Videos, das ZDF bietet wiederum seine Mediathek im kleinen Format an, die ARD außerdem ihren Videotext in einer mobilen Variante unter www.ard-text.de/mobil. Auch gibt es bereits einige Programmangebote auf Sozialen Netzwerken wie Facebook, die sich auch gut mobil abrufen lassen. Während der Olympischen Winterspiele in Vancouver wurden solche Angebote vermehrt genutzt.
Es ist nun eine Streitfrage, ob Apps, die funktionale und inhaltliche Erweiterungen des bislang bestehenden Angebots darstellen, den Drei-Stufen-Test durchlaufen müssen, da der sich auf „veränderte Telemedienangebote“ bezieht. Insbesondere könnten dazu die Apps gehören, die Funktionen wie ortsbezogene Straßenkarten mit Stauwarnungen, nutzerbezogene Wetterkarten sowie Einschlaf- und Weckfunktionen und iPhone-Gimmicks enthalten. Insbesondere die nutzerbezogenen Verkehrs- und Wetterdienste basieren auf einer enormen Informationslogistik, die ein privater Wettbewerber nur mit erheblichem Aufwand auf die Beine stellen könnte. Andererseits handelt es sich bei diesen Daten aber auch um eine Art Grundversorgung, was man etwa von einer Flirtdatenbank für das iPhone nicht behaupten könnte.
Weil sich alle Online-Angebote im Moment im Drei-Stufen-Test befinden, zeigten sich alle angesprochenen Sender extrem vorsichtig. Zu einem „laufenden Verfahren“ könne man sich nicht äußern, wurde um Verständnis geworben. Grundsätzlich sah man in den Apps jedoch kein Problem, da das Bundesverfassungsgericht mit dem Grundsatz der Technikneutralität mehrfach festgestellt hatte, dass die technischen Übertragungswege für bestehende Angebote unerheblich sind. Der Drei-Stufen-Test bezieht sich daher nicht auf die Übertragungswege, sondern auf die Inhalte der „Telemedien“ und damit auch indirekt auf die Apps, wenn diese die Online-Inhalte nutzen. Generell gilt senderintern die Faustregel, dass nur die für eine neue Übertragungsplattform extra produzierten Inhalte geprüft werden sollen.
Technikneutralität
Gräfin Kerssenbrock vertritt gegenüber „M“ daher auch die Überzeugung, dass „die Funktionalität von Apps unter das mit der EU-Kommission abgestimmte Kriterium der Technikneutralität“ fällt, „das in den ARD- und NDR-Richtlinien verankert ist.“ Nur „inhaltliche, wesentliche Änderungen“ würden zur Durchführung eines Drei-Stufen-Tests führen. Der „Verband Privater Rundfunk und Telemedien“ (VPRT) hingegen sieht das wesentlich enger. Er ist nicht der Auffassung, „dass jeder Inhalt über alle technischen Verbreitungsformen schon vom Auftrag umfasst ist, insbesondere wenn eine gezielte technische Aufbereitung erfolgt, die Nutzungssituation völlig verändert sein kann und erhebliche Kosten entstehen.“ Aus Sicht des VPRT ist deshalb ein eigener Drei-Stufen-Test durchzuführen. Er sieht außerdem „das Problem an den derzeit laufenden DST-Testverfahren darin, dass die Telemedienkonzepte insbesondere bei den technischen Verbreitungsformen und bei der Weiterentwicklung der Angebote so offen gehalten sind, dass man voraussichtlich eine Vielzahl der jetzt diskutierten Fälle als erfasst ansehen könnte, wenn die Gremien dem so zustimmen.“
Nach Angaben ihres Vorsitzenden Peter Boudgoust musste die ARD jedenfalls innerhalb eines Jahres bereits mehr als 100.000 Netzdokumente löschen. Dazu gehörten Angebote wie das virtuelle Tierheim des WDR, verschiedene Verbraucherangebote zu Telefontarifen und Steuern, Veranstaltungskalender, Jobbörsen oder die Urteilsdatenbank des „ARD-Ratgeber: Recht“. Der NDR soll in den letzten Wochen sogar mehr als die Hälfte seines Online-Angebotes aus dem Netz genommen haben. Der SWR soll rund 80 Prozent seiner Rezeptdokumente gelöscht haben und plant bis Sommer die Hälfte der gesammelten „Report Mainz“-Dokumente zu entfernen. Vielleicht steht nun bald eine Entrümpelungsaktion in der Apps-Ecke bevor, falls hier die Inhalte nicht sauber definiert wurden. Gleichwohl hat sich die ARD mit der Formulierung, dass Telemedien „im Zuge der technischen Entwicklung auf bereits bestehenden Plattformen weiterentwickelt werden“ dürfen, eine kleine Hintertür offen gelassen. Wie groß diese ist, wird sich aber noch herausstellen müssen.
Bislang wurde die Diskussion um die mobilen Apps überwiegend als Prüf- und Löschdiskussion geführt. Sie könnte jedoch auch ganz anders verlaufen, wenn Verlage die öffentlich-rechtlichen Sender als Content-Lieferanten, ja als Content-Dienstleister begreifen würden. In diese Richtung denkt etwa Rainer Tief, Multimedia-Chef des Bayerischen Rundfunks. Er sagte „M“: „Natürlich freuen wir uns, wenn unsere qualitätsgeprüften Angebote über möglichst viele Kanäle verbreitet werden.“ Und das müssten nicht immer die eigenen sein. Falls unsere Inhalte mit klarem Branding und ohne Zugangsbarrieren für die Allgemeinheit erreichbar bei einem neuen Service oder z.B. für Augmented-Reality-Anwendungen sinnvoll eingebettet werden sollen, kann man darüber natürlich reden. Natürlich müsse man jeden Einzelfall ansehen, so Tief. Aber man wäre für die Entwicklung innovativer Angebote auf Basis öffentlich-rechtlicher Daten und Inhalte durch Dritte durchaus aufgeschlossen.
Der Drei-Stufen-Test
Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten müssen laut dem 12. Rundfunkänderungstaatsvertrag sämtliche Telemedienangebote, einschließlich des Teletextes und der fernsehgebundenen Begleitdienste (EPG), in Dreistufentests durch ihre Gremien überführen lassen. Hierfür müssen sie Konzepte zur Prüfung einreichen. Die drei Stufen sind die drei Kriterien, die die Rundfunkanstalten in ihren Telemedienkonzepten darlegen müssen und die von den Rundfunkräten geprüft werden:
1. Stufe: dass das Telemedienangebot den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht und
2. Stufe: dass es in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beiträgt, sowie
3. Stufe: der Aufwand, der für die Erbringung des Angebotes vorgesehen ist.
Hierbei müssen Quantität und Qualität der vorhandenen frei zugänglichen Angebote, die marktlichen Auswirkungen des geplanten Angebots sowie dessen meinungsbildende Funktion angesichts bereits vorhandener vergleichbarer – auch öffentlich-rechtlicher – Angebote berücksichtigt werden.