Zunehmend Boulevard

Auseinandersetzungen um eine Studie zum Informationsjournalismus

Schlagabtausch zwischen der gewerkschaftlichen Otto-Brenner-Stiftung (OBS) und der ARD: Volker Herres, Programmdirektor des Ersten, schoss verbal gegen eine Studie zur Entwicklung des Nachrichten- und Informationsjournalismus im deutschen Fernsehen. Doch die Attackierten wehrten sich.


Entstanden ist die Studie im Auftrag der OBS und in Kooperation mit „netzwerk recherche“. Darin untersucht Medienjournalist Fritz Wolf, wie viel und welche Information in deutschen Fernsehprogrammen weitergegeben wird. Eine Frage, die nach Ansicht des Autors nicht nur Brancheninsider, Medienforscher und -politiker interessieren dürfte. Die darin steckende „Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Medien“ gehe alle an.
Im Ergebnis kommen erwartungsgemäß vor allem die privaten Sender nicht gut weg. Namentlich bei den Sendern der ProSiebenSat.1-Gruppe seien die Informationsanteile in den vergangenen Jahren drastisch gesunken. Eine Entwicklung, die bei den Landesmedienanstalten zu Überlegungen geführt hat, den Vollprogrammstatus einzelner Sender in Frage zu stellen und über Möglichkeiten gezielter materieller Anreize zur Durchsetzung informationeller Mindeststandards nachzudenken.
Aber auch den Informationsprogrammen der öffentlich-rechtlichen Anstalten stellt der Autor in seinem Resümee ein nicht nur positives Zeugnis aus. So habe im vergangenen Jahr die Berichterstattung über Katastrophen zugenommen, die über Wirtschafts- und Finanzthemen dagegen wieder abgenommen. Gerade die Primetime gehöre auch in der ARD und im ZDF eher zu den „informationsarmen Programmstrecken“, auch hier gebe es mehr „Infotainment und Boulevard“. „Das ist eigentlich ein unhaltbarer Zustand und widerspricht dem öffentlich-rechtlichen Auftrag“, so ein zentrales Ergebnis der Studie.
ARD-Programmchef Volker Herres mochte diese Kritik nicht auf sich sitzen lassen. Der Informationsanteil im Ersten sei „mitnichten zurückgegangen“, sondern in den letzten Jahren konstant geblieben. Er habe 2010 bei 43 Prozent gelegen und repräsentiere damit nach wie vor den größten Programmanteil.
Das trifft zwar zu, war in der Studie aber auch an keiner Stelle in Frage gestellt worden. Sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht, so der eindeutige Tenor der Studie, könnten die informationellen Leistungen der Privaten denen öffentlich-rechtlichen Sender nicht das Wasser reichen. Wo sich der Infoanteil bei den Privaten auf Nachrichten und Magazine beschränke, gehörten zum Repertoire von ARD und ZDF auch Nachrichtenmagazine, Reportagen, Dokumentationen und Dokumentarfilme.

Die Kritik der Studie an ARD und ZDF bezieht sich vor allem auf die Platzierung dieser Informationsformate. Eine Frage, um die sich die meist quantitativ argumentierende Programmforschung in der Regel nicht kümmere, wie der Autor anmerkt. Wobei die Studie durchaus widersprüchliche Entwicklungen aufzeigt. Bekanntlich wurde die Sendezeit der politischen Magazine in der ARD verkürzt, werden Dokumentarfilme und Dokus gern ins Vormitternachtsgetto verbannt. Als prominentes Illustrationsbeispiel aus jüngster Zeit kann die Doku „Strom ohne Atom“ – Ausstrahlungszeit: 23:40 Uhr – gelten. Andererseits gebe es auch neue Sendeplätze für Dokus, etwa das neue ZDF-Format „zoom“ und die Doku- und Reportagereihe „45 Minuten“ beim NDR.
Demgegenüber betreibt ARD-Mann Herres Fliegenbeinzählerei. Etwa, wenn er auf „fünf Minuten mehr Sendezeit“ für das wöchentliche Wirtschaftsmagazin „plusminus“ ab kommenden Herbst verweist. Dabei vergisst er zu erwähnen, dass dessen heutiges 25-Minuten-Format auch schon mal wesentlich länger war.
Besonders scheint Herres die in der Studie referierte Erkenntnis zu wurmen, auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern sei eine „Tendenz zur Boulevardisierung und zur Emotionalisierung von Nachrichten“ zu erkennen. Die These, die Fernsehnachrichten seien unpolitischer geworden, bleibe für die „Tagesschau“ eine „Behauptung ohne Belege“. Vernichtendes Fazit: „Dieser Kritik am Ersten fehlt die inhaltliche Substanz.“
Ein Vorwurf, der vor allem auf Herres selbst zurückfällt. Der ARD-Programmdirektor weise zurück, was in der Studie gar nicht behauptet worden sei, antwortete die Otto-Brenner-Stiftung. Anstelle reflexartiger Abwehr hätte „ein Blick wenigstens in die Thesen oder die Schlussfolgerungen der Studie … nicht schaden können“.
In den Führungsetagen der öffentlich-rechtlichen Anstalten, so scheint es, ist die Fähigkeit zur Selbstkritik nicht eben ausgeprägt. Dies wurde erst kürzlich angesichts seltsamer „Experten“-Schnellanalysen beim Bombenanschlag und Massaker in Norwegen deutlich (vgl. Titel S. 12). Eine Erweiterung und Präzisierung des Informationsbegriffs bei ARD und ZDF – wie in der Studie vorgeschlagen – erscheint vor diesem Hintergrund umso aktueller. Und zwar möglichst nicht in Richtung Unterhaltung wie bei den Privaten, die in der Vergangenheit selbst pseudodokumentarische Soaps als „Informationsprogramme“ einstuften. Die Absicht einzelner ARD-Sender, auch mit solchen „Scripted-Reality“-Formaten, zu experimentieren (M11/ 2010) scheint einstweilen ad acta gelegt. Ob eine Küchen-Show wie „Tim Mälzer“ als Information oder als Unterhaltung firmieren sollte, ist möglicherweise eine Geschmacksfrage. Ein Beitrag zur politischen Meinungsbildung ist sie jedenfalls nicht.

Die Studie

Fritz Wolf. Wa(h)re Information – Interessant geht vor relevant. 66 Seiten Hg: Otto Brenner Stiftung/Netzwerk Recherche

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Smart-Genossenschaft für Selbstständige

Smart klingt nicht nur schlau, sondern ist es auch. Die solidarökonomische Genossenschaft mit Sitz in Berlin hat seit ihrer Gründung im Jahr 2015 vielen selbstständig Tätigen eine bessere und stärkere soziale Absicherung verschafft – genau der Bereich, der bei aller Flexibilität und Selbstbestimmtheit, die das selbstständige Arbeiten mit sich bringt, viel zu oft hinten runterfällt.
mehr »

Medienkompetenz: Von Finnland lernen

Finnland ist besonders gut darin, seine Bevölkerung gegen Desinformation und Fake News zu wappnen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Schulen, aber die Strategie des Landes geht weit über den Unterricht hinaus. Denn Medienbildung ist in Finnland eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auf vielen Ebenen in den Alltag integriert ist und alle Altersgruppen anspricht. Politiker*innen in Deutschland fordern, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Kann das gelingen?
mehr »

Beim Tatort selbst ermitteln

Ein Zocker sei er nicht. So sagte es Kai Gniffke, Intendant des Südwestrundfunks (SWR), als er im August vorigen Jahres auf der Gamescom in Köln zu Gast war. Am ARD-Stand hat sich der damalige Vorsitzende des Senderverbunds dennoch zum Zocken eingefunden, zu sehen auch im Stream auf der Gaming-Plattform Twitch. Erstmals hatte die ARD einen eigenen Auftritt auf der weltweit größten Messe für Computer- und Videospiele – ein deutliches Signal, dass die ARD auch auf Games setzt. Und das hat maßgeblich mit dem SWR zu tun.
mehr »

Medienrat: Chance für den ÖRR

Der Medienrechtler Wolfgang Schulz hält es grundsätzlich für positiv, einen Medienrat zu schaffen, der evaluiert, ob die öffentlich-rechtlichen Sender ihren Auftrag insgesamt erfüllen. Es sei „eine gute Idee“ eine Institution zu haben, die gesamthaft die Entwicklung der Rundfunkanstalten in den Blick nehme, erklärt Schulz, Vorstandsvorsitzender des Leibniz-Instituts für Medienforschung Hans-Bredow-Institut (HBI).
mehr »