Chefredakteur geschasst

WAZ-Mediengruppe in Thüringen auf Restrukturierungskurs

Seit Anfang Dezember 2009 heißt der Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen (TA) Paul-Josef Raue und nicht mehr, wie in den vergangenen 20 Jahren, Sergej Lochthofen. In einer Pressemitteilung hatte die WAZ-Mediengruppe mit Hauptsitz in Essen die Ablösung Lochthofens angekündigt, verbunden mit dem Hinweis, dass dieser „nach dem Wunsch der Geschäftsführung eine andere Aufgabe innerhalb der WAZ-Mediengruppe übernehmen (solle), die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht“. Lochthofens Nachfolger Raue hatte bis dato als Chefredakteur bei der Braunschweiger Zeitung gearbeitet, die ebenfalls zur WAZ-Mediengruppe gehört, die insgesamt elf Tageszeitungen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Nordbayern herausgibt.


Da nicht nur Lochthofen selber, sondern auch seine Frau Antje-Marie, die stellvertretende Chefredakteurin des Blattes, zunächst entlassen werden sollte, hatte Lochthofen in ersten Redaktionen dem WAZ-Konzern „Sippenhaft wie bei den Nazis oder unter Stalin“ unterstellt. Diese Äußerungen wies der Geschäftsführer der Zeitungsgruppe Thüringen der WAZ, Klaus Schrotthofer, früher Sprecher von Bundespräsident Johannes Rau „in aller Form zurück. Der Vorwurf ist unangemessen maßlos und in der Sache falsch“. Lochthofen musste seinen Schreibtisch sofort und nicht erst wie geplant zum Jahresende räumen. In einem im Internetauftritt der TA publizierten Interview sprach Schrotthofer davon, dass es ja wohl „nicht unbillig ist, wenn ein Verlagshaus nach 20 Jahren die Entscheidung über einen Wechsel in der Chefreaktion will.“
Über die genauen Gründe der Demission Lochthofens kann nur spekuliert werden. Offensichtlich weigerte sich Lochthofen die geplanten „innovativen Regionalkonzepte“ umzusetzen. „Lange Gespräche“ über den künftigen Kurs der TA habe es mit Lochthofen gegeben, berichtet WAZ-Geschäftsführer Christian Nienhaus in einem Interview mit w&v, man sei dann zu dem Schluss gekommen, dass die „notwendige Veränderung der Thüringer Titel mit ihm als Chefredakteur nicht möglich ist“.
Vermutlich will die Essener Konzernspitze die Blaupause für die Restrukturierung ihrer NRW-Tageszeitungen auf ihre Thüringer Titel Thüringer Allgemeine (Erfurt), Thüringische Landeszeitung (Weimar) und Ostthüringer Zeitung (Gera) übertragen. In NRW wird der Mantel für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Neue Ruhr/Rhein Zeitung und Westfälische Rundschau bereits weitgehend an einem zentralen Contentdesk in Essen produziert, die Lokalredaktionen teils geschlossen oder personell durch die Einrichtung so genannter Regiodesks geschwächt. Mit der Reform mussten fast 300 Redakteure den Verlag verlassen.
Während sich an Rhein und Ruhr wenig Widerstand gegen die Pläne der WAZ-Mediengruppe rührte, eskalierte der Streit um Lochthofen. Der Kampf „Essen gegen Erfurt“ (SZ) entzündete die Gemüter. Im Blatt selber wurde ausführlich über den spektakulären Rauswurf Lochthofen berichtet, der bundesweit bekannt und populär ist, durch seine zahlreichen Auftritte im ARD-Presseclub, als gut sortierte und pointierte Stimme des Ostens. Nach einer Mitarbeiterversammlung forderte die Redaktion die Rücknahme der Abberufung Lochthofens, publizistische Unabhängigkeit, ein Mitspracherecht bei strukturellen Änderungen, eine Vergütung nach dem Flächentarifvertrag und den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen. Unzählige Briefe und E-Mails aus Ost- und Westdeutschland gingen in Erfurt ein, in denen, so die Redaktion, „große Betroffenheit, Kritik und Unverständnis, für die Entscheidung geäußert wurden“. Nachzulesen sind die Lesermeinungen mit dem Tenor „Herr Lochthofen darf nicht gehen, er soll bleiben“ oder „Zu DDR-Zeiten wurde die Presse zensiert, heute schmeißt man die unbequemen Journalisten einfach raus“ im Internetauftritt der TA. Einen ersten Erfolg haben die zahlreichen Proteste inzwischen gehabt, mit Antje-Marie Lochthofen wurde bei Redaktionsschluss über eine Weiterbeschäftigung verhandelt.

nach oben