Neue zukunftsfähige Formate in der ARD für jung und alt
Viele Bürgerinnen und Bürger im Zukunftsdialog haben die Erwartung, dass die ARD mehr jüngere und mehr innovative Formate anbietet“, berichtet „funk“-Moderatorin Eva Schulz über die Gespräche mit dem Publikum. Vor allem bei der jüngeren Generation – so die Langzeitstudie Massenkommunikation 2020 – liegen jederzeit verfügbare, digitale Medienangebote im Trend. Doch der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss auch die über 60-Jährigen bedienen, die noch weitgehend lineares Fernsehen und Radio bevorzugen, aber durchaus auch zunehmend das Internet nutzen, etwa über die Mediatheken, oder auch Online-Formate im Radio hören.
„Digital und linear ergänzt sich ideal“, sagt Martin Ganslmeier im Gespräch mit M über den Tagesschau-Zukunftspodcast „Mal angenommen“. Der Teamleiter Radio-Gemeinschaftsredaktion im ARD-Hauptstadtstudio betreut redaktionell den Podcast, der in Kooperation mit ARD aktuell entsteht. Das zurzeit sechsköpfige Team greift darin eine aktuelle politische Idee auf und spielt in einem Gedankenexperiment die möglichen Folgen durch – etwa was wäre, wenn es in Deutschland nur noch Elektroautos gäbe oder sich alle vegan ernährten. Das Team besteht aus Hörfunk- und Fernseh-Korrespondent*innen aus dem Hauptstadtstudio, die im Tandem moderieren, Betroffene und Expert*innen befragen und Beispiele für best und worst cases im In- und Ausland suchen.
Erfolgreichster Nachrichten-Podcast
„Mal angenommen“ läuft seit Januar 2020 und gewann im gleichen Jahr den „Prix Europa“ in der Kategorie „Digital Audio Project“. Mit etwa 100.000 Abrufen pro Folge habe sich das innovative Informationsformat zu einem der „erfolgreichsten Nachrichten-Podcasts innerhalb der ARD“ entwickelt, so Ganslmeier. Das „erfreulich weibliche und junge Publikum“ schätze den konstruktiven, dialogischen Ansatz – dass keine Lösungen vorgegeben, sondern unterschiedliche Szenarien aufgezeigt werden. Aber auch bei der älteren, eher männlichen Zielgruppe im linearen Programm stoße „Mal angenommen“ auf Interesse. Etwa die Hälfte der Infoprogramme der ARD-Landesrundfunkanstalten übernehme mittlerweile den halbstündigen Podcast.
Jeden Donnerstag gibt es eine neue Folge auf der „Tagesschau“- Website, in der tagesschau-App, in der ARD Audiothek und – entsprechend der ARD-Strategie, auf allem Plattformen vertreten zu sein – auch auf Spotify, Apple und YouTube. „Mal angenommen, das Corona-Virus bricht massiv in Deutschland aus – was dann?“ war bisher die am häufigsten abgerufene Folge, so Ganslmeier. Sie erschien am 26. Februar 2020 – brandaktuell kurz vor dem ersten Lockdown im März 2020. In diesem Superwahljahr werden seit Mitte August Wahlkampfthemen aufgegriffen und weitergedacht, was sie für die Zukunft bedeuten – etwa Tempolimit, Mietendeckel oder Aktienrente für alle.
Neue Formate werden im Digitalen entwickelt und erprobt, denn die Zielgruppe jüngeren und mittleren Alters dort sei „deutlich aktiver“, so SWR-Pressesprecher Felix Oser auf M-Nachfrage zu dem neuen Politik-Format „Der Raum mit Eva Schulz“. Die Idee entwickelte Schulz im Team von „funk“, dem jungen Content-Network von ARD und ZDF – unter Federführung des SWR. „Bei klassischen Polit-Talkshows weiß man oft schon vorher, wer was sagen wird, und der Ablauf ist immer derselbe“, erläutert sie. „Ich habe mich gefragt: Was, wenn man das mal ganz anders aufzieht – nämlich konstruktiv statt konfrontativ?“ Zwei Pilotfolgen zu Fleischkonsum und Bildungsgerechtigkeit sind seit Juli in der Mediathek abrufbar. Das Online-Format sei „ganz gut gelaufen“, so Oser. Über weitere Folgen im Netz und im linearen Programm werde nach der Auswertung entschieden.
Riesenchance Mediathek
Ergänzend zum linearen Programm betrachtet ARD-Programmdirektorin Christine Strobl in einem Pressegespräch im Mai die Mediathek als „Riesenchance“, weil sie sich an spezifische Zielgruppen richtet. Das sei „heute Form der Zuschauerzugewandtheit“. Um aber „ein Angebot für die ganze Bevölkerung, für alle Altersgruppen und alle Milieus, zu schaffen“ verfolge die ARD mit ihrem digitalen Umbau zwei Ziele, so ARD-Sprecherin Gabriele Müller auf M-Nachfrage. Die Mediathek solle gestärkt und gleichzeitig das lineare Gemeinschaftsprogramm Das Erste profiliert werden.
Der Hessische Rundfunk setzt diese Doppelstrategie um, indem er nach eigener Auskunft „lineare Formate sehr bewusst nur noch für die Zeitschiene zwischen 16 und 20 Uhr entwickelt oder weiterentwickelt. Diese Zeitschiene ist fürs Regionale von herausragender Bedeutung und dort sind wir auch besonders erfolgreich.“ Alle anderen Redaktionen erhielten den Auftrag, Formate für die Mediathek zu produzieren bzw. bestehende Sendungen weiterzuentwickeln. Lineare Sendeplätze dienten fortan der Zweitverwertung. Auch andere ARD-Sender verfolgen eine solche Online-First-Strategie. So ist die WDR-Dokumentation des Datenexperiments „Made to Measure“ in der ARD Mediathek verfügbar, bevor das WDR Fernsehen sie am 1. September zeigt. In dem Crossmedia-Projekt geht es um den digitalen Fußabdruck eines jeden Menschen und ob persönliche Google-Daten es ermöglichen, Doppelgänger*innen zu erschaffen. Zu dem Projekt gehört eine interaktive Storytelling-Website.
Wie digitale und lineare Programme durch crossmediale Aufbereitung von Inhalten gleichermaßen bedient werden können, zeigt auch die Serie „3 Frauen – 1 Auto“, die der Bayerische Rundfunk am 27. September startet. In der Web-TV-Radio-Serie dreht sich alles um drei ganz unterschiedliche Frauen, die täglich eine Fahrgemeinschaft bilden und in Gesprächen ihr Leben unter die Lupe nehmen. Vormittags ist im Radioprogramm von Bayern 1 die Audio-Comedy zu hören, nachmittags zeigt das BR Fernsehen die Video-Fassung und vorab sind die Folgen in der Mediathek verfügbar.
Zusammen mit dem BR hat der Rundfunk Berlin-Brandenburg im Juli das crossmediale Doku-Projekt „Zeit für Local Heroes – Politik vor Ort“ gestartet. Den Auftakt bildet eine fünfteilige Wochenserie im ARD-Mittagsmagazin und auf einem eigens gestalteten Instagram-Kanal. Über ein halbes Jahr begleiten RBB- und BR-Reporter*innen „Helden der Demokratie“ in den Kommunen. Im November gibt es in der ARD-Themenwoche „Stadt. Land. Wandel“ dazu eine TV-Dokumentation im Ersten und eine Podcast-Reihe von radioeins des RBB und Bayern 2.
Radio Bremen will das Hörfunkprogramm COSMO, für das es dem WDR zuliefert, „zu einem crossmedialen Angebot weiterentwickeln, das sich sowohl in seinem Programm als auch in seinem Team intensiv mit dem Thema „Diversität“ beschäftigen wird“, heißt es aus dem Sender. Die Hälfte des Etats solle ab 2022 für non-lineare Produktionen verwendet werden.
Regionale Stärken im Digitalen
Viele Landesrundfunkanstalten bauen auch ihre regionalen Stärken im Digitalen aus. Der NDR startete z.B. im Juni „MV LIVE“ – ein neues digitales Videoformat für Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern, das jederzeit empfangbar ist – unter ndr.de/mv, Facebook und der NDR MV App. Fragen und Meinungen von Nutzer*innen, die den NDR via App oder Chat erreichen, fließen direkt bei MV LIVE ein. Das tägliche Info-Format sei eine „Ergänzung zu unserer regionalen Berichterstattung in Radio und Fernsehen bei NDR 1 Radio MV und dem ‚Nordmagazin‘“, so Gordana Pattet, multimediale Chefredakteurin des NDR Mecklenburg-Vorpommern. Sie erläutert: „Wir produzieren mit den vorhandenen Ressourcen, und bündeln Recherche, Produktion und Ausspielung für Audio, Video und Text noch effizienter.“
Der MDR nutzt online-Tools, um die gezielte Interaktion mit seinem Publikum – zu Klimakrise und Bundestagswahl – auf einzelne Regionen herunter zu brechen. So gibt es seit Juli immer freitags ein Klima-Update. Der digitale Newsletter informiert über das multimediale Angebot zum Thema – mit Beispielen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Menschen in diesen drei Bundesländern befragt das MDR-Meinungsbarometer – aktuell geht es um ihre Wünsche zur Bundestagswahl. Mit seinen regelmäßigen Online-Befragungen möchte der MDR nach eigener Auskunft „allen Teilen der Gesellschaft eine Stimme geben“ – zu unterschiedlichen Themen wie Tempolimit, Corona-Regeln oder Gendersprache. Mitte August seien mehr als 47.000 Menschen aus Mitteldeutschland bei „MDRfragt“ angemeldet gewesen.
Auch technisch-strukturell befindet sich die ARD „mitten im digitalen Wandel und stellt sich als relevantes Inhalte-Netzwerk auf“, so ARD-Sprecherin Müller. Zum besseren Überblick über die Programmangebote der Rundfunkanstalten werden in der Mediathek Inhalte gebündelt und die Navigation erleichtert. ARD und ZDF bauen ein gemeinsames Streaming-Netzwerk ihrer Mediatheken auf. Um die jüngere Zielgruppe zu erreichen, setzt die ARD darauf, auf allen Plattformen präsent zu sein. Dass eine solche Strategie auch Risiken birgt, zeigt eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zu Podcasts (s. auch S. 26). Dort wird gewarnt, dass Spotify und Co sich im Hintergrund bereits anschicken, „die technisch notwendige Infrastruktur für Podcasts dauerhaft zu beherrschen und in ihrem Sinne zu kommerzialisieren“.