Mit frischen Konzepten die „Digital Natives“ erreichen. Schafft das das alte Hör-Medium Radio noch? Das junge Publikum verlangt nach crossmedial aufgebauten Inhalten, die sowohl On Air als auch online laufen, und gern mit Bild. Radio für junge Zielgruppen ist ohne YouTube und Social Media nicht mehr zu machen. Die Vermischung von „Hörfunk“ mit Video und Texten im Netz hinterlässt deutliche Spuren – und neue Erzählformate.
Junge Ideen im Radio. Danach lechzt die Branche. „Die Frage“ ist so ein Format, produziert vom Bayerischen Rundfunk (BR) in München. Ein Reporter versucht innerhalb einer Ausgabe eine Frage zu beantworten, Fragen wie z.B. „Was ist so geil an einem Fetisch?“. Die Antwort darauf könnte leichter zu beantworten sein, als die Frage, was für ein Format die „Die Frage“ denn eigentlich ist. Die Sendung läuft überwiegend auf YouTube. Ursprünglich war das mal ein Radiofeature auf „BR Puls“, wurde dann umgearbeitet zu einer 30minütigen TV-Dokumentation im BR-Fernsehen, ist bei „Funk“, der ARD/ZDF-Jugendplattform im Internet gelandet und kommt nun wieder über einen Podcast zurück ins Radio.
Die jungen Nutzer des Radiosenders „BR Puls“ sind es inzwischen gewohnt, Erklärungen im Bewegtbild-Format zu erhalten. Um das über alle Kanäle gewachsene Format wieder radiotauglich zu machen, wird im alten Hörfunk mehr erklärt, als das in kurzen TV-Schnipseln möglich ist. Der Reporter berichtet im Studio als Zeuge, als Profi, der vor Ort war. „So kann er mehr Emotionen reinbringen“, sagt BR-Projektleiter Florian Meyer-Hawranek.
Alle Ausspielwege werden bedient
„Die Frage“ ist ein Beispiel, wie die Umwandlung von Videoformaten in Radioinhalte zunimmt. Vor allem die öffentlich-rechtlichen ARD-Anstalten, die sowohl TV als auch Radio bedienen, versuchen vor allem im Jugendbereich crossmediale Produktionen in allen Verbreitungswegen. Die Herausforderung ist, bei multimedial gedachten Produktionen am Ende auch noch für das reine Hören eine einigermaßen plausible Sendung zu erhalten. „Die Basis ist Videomaterial, keiner ist extra mit dem Mikro nah rangegangen, um etwas aufzunehmen, sondern die Kamera war nah dran“, beschreibt Meyer-Hawranek das Problem mit der crossmedialen Produktion. Die Moderatorin im Radio schnipselt sich dann aus den Videoformaten einzelne O-Töne raus, der Redakteur des Videobeitrags gibt im Studio Auskunft über weitere Hintergründe.
Im Radio, im Fernsehen und im Web bietet der BR neue Formate für eine junge Zielgruppe an. So wird das junge Radioprogramm Puls zu einem Vollprogramm mit Nachrichten und moderierten Flächen bis in die Nacht ausgebaut. Für das Bayerische Fernsehen, ARD-alpha und den Online-Auftritt pilotiert der BR mehrere junge Sendungen. Johannes Grotzky, Honorarprofessor an der Uni Bamberg und von 2002 bis 2014 BR-Hörfunkdirektor sieht in der noch engeren Verzahnung des Fernseh-, Hörfunk-, und Multimedia-Angebots die große Chance für die Erreichung junger Zielgruppen: „Die Lebenswirklichkeit junger Nutzer sieht mittlerweile so aus, dass sie sich sehr gezielt die Angebote heraussuchen, die sie ansprechen. Die vielbeschworene Konvergenz der Medien ist für junge Zuhörer und –schauer_innen keine Zukunftsvision mehr, sondern schon selbstverständlicher Mediennutzungsalltag.“
Wortformate aus den USA zeigen einen Weg
Neue Sendeformate experimentieren mit Erzählformen. Deutschland ist dabei jedoch kein Vorreiter. Vor allem im angelsächsischen Raum entstehen viele neue Formate. Es wird experimentiert: Der Podcast „Serial“ wurde zum Beispiel berühmt, weil Journalisten einen Mordfall in mehreren Folgen neu aufrollten. Viele Podcasts werden fürs Radios produziert. „Death, Sex and Money“, eine wöchentliche US-Show zu ein paar Dingen, über die man nicht unbedingt gerne redet: Tod, Sex und Geld, wird von WNYC Radio hergestellt und läuft inzwischen auch im öffentlich-rechtlichen NPR.
Andere Sendungen werden nur fürs Web produziert und sind nur als Podcast erhältlich. Der Vorteil dieser Ausspielwege: Die Macher haben keine Deadline. Sie können unendlich lang an ihren Geschichten feilen und sie erst bringen, wenn sie sich der Sache ganz sicher sind.
Innovation bei arte radio – ohne deutsche Beteiligung
Dieses Privileg genießen auch die Macher von „arte radio“. Sie geben ihre Stücke erst dann frei, wenn sie die Produzenten für gelungen halten. Reportagen, Hörspiele, Dokumentationen, Klang-Kreationen, Serien und Chroniken. Anspruchs- und gehaltvoll, das verspricht „arte radio“ seinen Hörer_innen, ganz wie es der Arte-Nutzer auch vom Fernsehprogramm erwartet. Hinter „arte radio“ versteckt sich eine kleine Denkwerkstatt, ein innovatives Audioprojekt im Internet. Auf der Webseite werben die Macher mit „Freiraum, in dem sich Klang-Kompositionen und Autorentalente entfalten können – Raum zum Träumen, Fühlen, Diskutieren“ und zum „Französisch lernen“. Vor allem letzteres können die deutschen Hörer des Radioablegers des deutsch-französischen Kultsenders erwarten. Bereits seit 15 Jahren ist „arte radio“ nun auf Sendung, ohne einen deutschen Sprachdienst. Und wie so oft hängt das mit den komplexen Strukturen des deutsch-französisch öffentlich-rechtlichen Senders zusammen. Die gesamte Bandbreite der „arte radio“-Werkstatt, wo eine Vielzahl neuer Radioformate entsteht, bleibt den Hörern vorbehalten, die des Französischen mächtig sind.
Erst das Thema, dann der Verbreitungsweg
Innovatives kommt auch aus der Schweiz. Dort gibt es das Storytelling-Format „Wahre Geschichten“ – Menschen erzählen ihre Geschichten vor einem Live-Publikum. „Die Jungen Zielgruppen“ heißt eine neue Redaktion beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Dort werden in erster Line Themen produziert, erst danach wird entschieden, über welche Kanäle sie in welcher Form verbreitet werden: TV, Radio, Webseite, YouTube oder Social Media. „True Talk“ ist eines der Formate, in denen Menschen berichten, die aufgrund irgendeines Merkmales Vorurteilen im Leben begegnen, beschreibt es Rosanna Grüter vom SRF. Sie fast die Gründe zusammen, warum neue Formate im Radio, die multimedial funktionieren, dort erfolgreich sein können: „Es braucht auch Inhalte, jenseits von Katzenbabys und Brüsten“. Die gäbe es schließlich überall im Netz, dazu brauche es keine Radioredaktion.
Und die Privaten? Aufwendig recherchierte Themen und Formate waren zu keinem Zeitpunkt die Stärke des kommerziellen Hörfunks. Aber auch hier entsteht Neues stets in enger Verbindung zu Bewegtbild-Ausspielwegen im Netz. Beispiel: die „Energy YouTube Show“ – hier wird mehr gesprochen, als auf der Station üblich – läuft als TV-Format auf dem Radio Energy (NRJ) YouTube-Kanal. Die Ausspielwege im Radio werden zwar mitbedient, erscheinen jedoch inzwischen eher als Bewerbungskanal für YouTube. „Früher haben wir Plakate aufgehängt, um für uns zu werben und die Leute zum Einschalten auf unseren Sender zu bewegen. Heutzutage ist es völlig egal, ob wir in ihrer Timeline bei Facebook auftauchen, ob sie eine geteilte Instagram-Story von uns sehen oder ob es ein YouTube Video ist, was sie beim Surfen zu einem völlig anderen Thema finden“, erklärt Tim Torno, langjähriger Energy-Programmdirektor.
Die fortschreitende Veränderung des alten Mediums Radio im Internet werde in den kommenden Jahren zu neuen Inhalten und Formaten führen, die das Hör-Medium bereichern würden, meint Florian Meyer-Hawranek vom BR. Vor allem der Podcast-Boom belebe einen guten Journalismus im Radio, auch und gerade für junge Menschen, die sich ihre Inhalte ohnehin im Netz suchten. „Da kommt noch viel Spannendes.”