Meinung
Was heißt dies konkret? Nehmen wir einmal fiktiv an, eine freischaffende Fotojournalistin hat während der Flutkatastrophe 2021 in Westdeutschland in einem Dorf im Ahrtal das Porträt einer Mutter mit ihrem Kind angefertigt. Das Bild zeigt eine erschöpfte Frau, die in einer mit Schutt übersäten Straße mit ihrem kleinen Kind im Arm auf einem Steinblock ruht. Die Fotografin arbeitete sehr präzise und notierte sich ausführlich Informationen zur dargestellten Person und ließ dieser im nachhinein auch eine Kopie des Porträts zukommen. Da die Begegnung in einem konkreten dokumentarischen Kontext stattfand, war die Protagonistin damit einverstanden, hatte sie doch selbst ein Interesse daran, dass die Situation im Ahrtal bekannt wird.
Die Fotojournalistin vertrieb ihre Aufnahmen über eine Bildagentur. Ein Nachrichtenmagazin kaufte das Bild und brachte es als doppelseitigen Aufmacher eines Schwerpunktartikels.
Auch international wurde die Aufnahme in journalistischen Publikationen verbreitet. Nutzer*innen teilten Artikel und Bild, wodurch es viral ging. Oft wurde es mit dem Hinweis versehen, dass es sich um die Madonna des Ahrtals handele, weil es an die Figur der Pietà erinnere. Die Fotojournalistin reichte das Bild bei mehreren Preisen ein. Beim World Press Photo Award wurde es als Bild des Jahres prämiert. Weltweit wurde das Bild zur Bewerbung des Wettbewerbs auf Plakaten sowie in sozialen Netzwerken genutzt. Infolge einer Ausstellung fotografischer Positionen zur Flutkatastrophe kaufte auch ein Museum die Aufnahme an. Nur kurz darauf fand in diesem Museum eine Ausstellung über das weibliche Porträt statt, in dem dieses Bild neben künstlerischen Positionen aus der Malerei gezeigt wurde. Die Fotografin nutzte das Bild auch zur Eigenwerbung, etwa für von ihr angebotene Porträtfotografie-Workshops.
Die hier beschriebenen Verwertungsformen insbesondere von Einzelbildern sind heute – so oder so – Alltag in der journalistischen Fotografie. Denn je größer die Krise auf dem Bildermarkt, umso mehr suchen Fotojournalist*innen nach neuen Publikationsforen. Das Problem mit der grenzenlosen Zirkulation ist, dass damit ein Kontrollverlust einhergeht. Je mehr Zeit seit der konkreten Begegnung und dem Berichterstattungsanlass vergeht, umso mehr verblasst der direkte Zusammenhang zwischen der Fotografie und der konkreten Aufnahmesituation. Und umso größer wird auch der Kontrollverlust. Die Bilder erfahren multiple Kontextwandel, weg vom Dokument hin zu einem ästhetischen Produkt oder einer historischen Quelle und können zur Bildikone werden. Inhaltlich geht es immer weniger um das Geschehene und die Erlebnisse der Dargestellten, stattdessen um die Qualität des Bildes, dass für eine Vielzahl unterschiedlicher Zwecke einsetzbar ist. Auch wenn diese Kontextwandel und Bedeutungsveränderungen schon immer Teil der Zirkulation fotografischer Bilder waren, ist durch die Digitalisierung und Social Media jedes Maß verloren gegangen.
Aber wer will sich angesichts dieses möglichen Kontrollverlusts noch fotografieren lassen? Denn die Dargestellten können nicht mitentscheiden, ob sie als Fotomotiv an einer Museumswand hängen oder zum Werbebild für einen Preis werden. Selbst wenn Fotojournalist*innen sich bildrechtlich, wie im Beispielfall, auf der sicheren Seite wissen, ist die grenzenlose Verbreitung aus ethischer Perspektive problematisch. Jede Fotojournalist*in muss sich die Frage des Teilens und Verkaufens journalistischer Fotografie bei jedem einzelnen Bild neu stellen. Darüber steht die Frage, ob die bestehenden rechtlichen und berufsständischen Instrumente noch adäquate Antworten auf die hier formulierten Herausforderungen geben. Denn die multiplen und letztlich fast unendlichen Verbreitungs- und Verwertungsmöglichkeiten digitaler Bilder waren zur Entstehungszeit des Kunsturheberrechts vor mehr als 100 Jahren als bis heute gültigem Rechtsrahmen nicht absehbar. Deswegen müssen wir über neue, zeitlich auf konkrete journalistische Publikationskontexte begrenzte, Verwertungsrechte diskutieren.