Meinungsversagen

Foto: Tobias Hametner

In der Woche vor den Europawahlen und beim Feiern von 70 Jahre Grundgesetz haben die etablierten Parteien, auch die Unionsspitzen, Meinungs- und Pressefreiheit noch als wichtiges Gut für die Demokratie gepriesen. Nach den schlechten Wahlergebnissen hört man andere Töne. Für die CDU-Vorsitzende ist eine Verabredung von 70 Youtubern und Bashing aus dem Internet „klare Meinungsmache“, die – zumindest im Wahlkampf – nichts zu suchen hätte.

Dabei ging es ja gerade um Wahlen. Die Digital Natives forderten von den großen Parteien „Kursänderung“ in Übereinstimmung mit den Ergebnissen des Weltklimagipfels und stellten sich auf die Seite wissenschaftlicher Expertise. Wer das verweigere, sei für sie nicht wählbar und mache sich keine Freunde.

„Es muss der Parteivorsitzenden nicht gefallen, aber der politische Aufruf von Rezo und vielen weiteren einflussreichen Youtuberinnen und Youtubern ist vollumfänglich gedeckt von jenem Artikel 5 Grundgesetz, den gerade wir Journalist*innen als so wichtig erachten“, sagt dazu die Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union in ver.di Tina Groll. Auch für alle, die sich über die Sozialen Medien politisch äußern, gelte grundsätzlich die Meinungsfreiheit. Mehr noch: Lange sei kritisiert worden, dass diese Influencerinnen und Influencer ihrer Verantwortung nicht gerecht würden, gänzlich unpolitisch agierten und lediglich kommerzielle Interessen verfolgten. Jetzt werden die Generationen Y und Z offenbar erwachsen und sind politischer als viele gedacht haben. Und sie nutzen andere Tools.

Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Spezielle „Regeln, die im Wahlkampf gelten“ jedoch, wie sie sich Kramp-Karrenbauer im Unterschied zur analogen Welt vorstellt, sind situationsgetriebener Unsinn. Oberstes Gesetz bleibt Meinungsfreiheit. Die etablierten Politikerinnen und Politiker und ihre Parteien sollten eigentlich froh sein: so viel Demokratie war lange nicht mehr, so viel öffentlicher Diskurs auch nicht. Dass die Wahlbeteiligung an der Europawahl so erfreulich hoch war, hat auch mit der digitalen Mobilisierung der Jugend in Europa zu tun.

AKK täte gut daran, mehr über die politischen Inhalte und Versäumnisse ihrer Partei nachzudenken als Schuldige im Netz zu suchen oder gar Presse- und Meinungsfreiheit anzukratzen. Politische Verantwortung zu übernehmen heißt auch, sich zu modernisieren, in die Auseinandersetzung mit der Jugend und ihren politischen Forderungen einzusteigen. Noch dazu, wenn sie, wie beim Klima, derart existenziell sind. Sonst macht man sich nicht nur keine Freunde, sondern versagt auf ganzer Linie.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Mit Perspektiven gegen soziale Spaltung

Die Berichterstattung über den Nahostkrieg zwischen Staatsräson und Menschenrechten ist heikel, denn die Verengung des Diskurses begünstigt einen Vertrauensverlust der Medien und die soziale Spaltung in Deutschland. Beides wird durch den politischen Rechtsruck befeuert. Grund genug, den medialen Diskurs genauer unter die Lupe zu nehmen.
mehr »

Das „Compact“-Verbot wurde ausgesetzt

Das rechte Magazin „Compact“ darf vorerst weiter erscheinen. Nachdem das Bundesinnenministerium im Juni ein Verbot verfügt hatte, gab das Bundesverwaltungsgericht zwei Monate später einem Eilantrag des Unternehmens statt, das das Magazin herausgibt (BVerwG, Beschluss vom 14. August 2024 – BVerwG 6 VR 1.24). Dennoch ist der Beschluss kein Freifahrschein, denn das Gericht hat einem Verbot rechter Medien nicht grundsätzlich eine Absage erteilt.
mehr »

Pressefreiheit gegen rechts verteidigen

Die Wahlergebnisse der AfD in Brandenburg, Sachsen und vor allem in Thüringen sind für unsere offene, vielfältige und demokratische Gesellschaft eine Katastrophe. Noch ist unklar, wie sich das parlamentarische Erstarken der Rechtsextremisten und Faschisten konkret auf unser Zusammenleben auswirken wird. Absehbar ist aber schon jetzt, dass Medienschaffende und das Mediensystem insgesamt noch stärker unter Druck geraten werden.
mehr »

Die Schmuddel-Liste aus Bayern

Die bayerischen Verfassungsschützer haben Schreckliches entdeckt. In ihrem jüngsten Halbjahresbericht 2024 warten sie mit brandneuen Erkenntnissen zu russischen Desinformationskampagnen auf, unter anderem zu sogenannten Doppelgängerseiten. Das sind solche, die aussehen wie echte Nachrichtenportale, aber gefälschte Inhalte verbreiten. Der bayerische VS begnügt sich jedoch nicht mit Doppelgängern, sondern nimmt die originalen Inhalte deutscher Medien ins Visier. Unter der Kategorie „Webseiten, die Nachrichten passend zum russischen Narrativ verbreiten“ listet er eine Reihe von Medien auf, deren Berichte angeblich öfter von „Doppelgängern“ aufgegriffen werden, um die Reichweite…
mehr »