Pro & Contra: Wahlhilfe

Adäquate Hilfe zur Meinungsbildung

Von Maike Rademaker | Was für eine Vorstellung: Deutschlandweit geben alle Zeitungen kurz vor einer Bundestagswahl eine Wahlempfehlung ab.

Redakteure laden Politiker zu scharfen Diskussionen über ihr Wahlprogramm ein. Spitzenpolitiker sind gezwungen, ihre Marktplatz- und Talkshowreden zu unterlassen und sich kritischen Fragen zu stellen. In den Analysen stellt die Zeitung ihre Gründe für die Auswahl dar – und löst damit Debatten bei den Lesern aus.

Nicht, dass das die Vision der FTD ist, schließlich schätzt jede Zeitung ein Alleinstellungsmerkmal. Aber warum die Wahlempfehlung, die diese Zeitung 2002 und bei der Europawahl abgegeben hat, und bald erneut abgeben wird, ein solches Kopfschütteln bei anderen Blättern auslöst, ist kaum nachzuvollziehen. Wahlempfehlungen sind eine adäquate Hilfe bei der Meinungsbildung, und in einer wachsenden Mediendemokratie eine logische Konsequenz.

Eine Wahlempfehlung, die nach einer ausführlichen und auch dokumentierten internen Debatte erfolgt, macht zunächst einmal nur öffentlich, was in einer Zeitung gedacht wird. Welche Zeitung so tut, als gebe sie keine Wahlempfehlung ab, hält einen Schein an Neutralität aufrecht, den es nicht gibt. Nicht nur, dass Zeitungen weltweit nach kurzer Lektüre ohnehin preisgeben, wo sie politisch stehen – die Analyse des Medienforschungsinstitutes Medientenor hat 2002 zudem ergeben, dass sich in Wahlkampfzeiten die Berichterstattung in Richtung der einen oder anderen Partei verstärkt. So sei die taz im Wahljahr 2002 eindeutig pro-SPD in der Berichterstattung, SZ, FR, Spiegel, Stern hätten zu den Grünen geneigt. Was ist für den Leser schwieriger – der Umgang mit einer solchen versteckten Empfehlung oder die offene Positionierung?

Der Leser profitiert bei der FTD zudem davon, weil er mitverfolgen kann , wie sich die Meinung bildet – und das nicht nur in Bereichen, in denen er sich auskennt, sondern auch da, wo die Zeit zur ausführlichen privaten Auseinandersetzung nicht reicht. Eine Bevormundung ergibt sich daraus nicht: Wer glaubt, Leser könnten sich damit keine eigene Meinung mehr bilden, ist arroganter als die Redaktion, die glaubt, eine belastbare Empfehlung abgeben zu können. Und wer glaubt, Redakteure könnten nicht damit leben, dass die eigene Zeitung eine Partei empfiehlt, die sie selbst vielleicht nicht wählen, unterschätzt die Mitarbeiter und deren hoffentlich vorhandenes Demokratieverständnis. Meinungspluralität gehört zu den Stärken der FTD und dokumentiert sich, auch nach britischem Vorbild, täglich auf mehreren Seiten. Sie gilt auch bei der Wahl.

Im Fazit: Die Bundesrepublik braucht nicht weniger Diskussionen über Politik und Parteien, sondern mehr. Eine offene und scharfe Positionierung in Form einer Wahlempfehlung in kompetenten Medien ist ein wertvoller Beitrag dazu.

Die Autorin ist Redakteurin der Financial Times Deutschland

Missionare gehören in die Kirche

Von Hans Leyendecker | Für den Vergleich von Produkten ist die Stiftung Warentest geeignet. Welche Zeitungsredaktion könnte auf ähnlichem Niveau Parteiprogramme vergleichen und wäre nach der Wahl auch noch für das Ergebnis gegenüber dem Leser verantwortlich? Keine. Die Wahlempfehlung, wie sie die FTD erstmals 2002 praktiziert hat, war Eigenwerbung. Es gibt uns, wir trauen uns was. Schaut mal bei uns rein, tönte die kleine Redaktion am Hamburger Stubbenhuk. Das Finanzblatt wollte Aufmerksamkeit erregen und die hat sie bekommen. Chapeau. Deshalb 2005 dieselbe Show. Auftrag der Medien ist es, zu informieren, zu kritisieren und Orientierung zu versuchen. Das muss reichen. Wer Missionar werden will, sollte sich bei einer der Kirchen melden. Da gibt es reichlich Bedarf. Schon im journalistischen Alltag gibt es genug Gemeindeprediger. Manche Kommentatoren versuchen, Zeitungen Richtung zu geben. Das erfreut den Leser, wenn er derselben Meinung ist oder es ärgert ihn, wenn er sich nicht bestätigt fühlt. Andererseits kann die dezidierte Meinung auch Haltung sein. Es ist gut, wenn sich Journalisten nicht immer hinter anderen verstecken. Es müssen nur unterschiedliche Meinungen verschiedener Kommentatoren ihren Platz finden. Aber Richtung ist kein Synonym für Linie und um die geht es bei einer Wahlempfehlung. Der Duden für „sinn- und sachverwandte Wörter“ verwendet für Linie auch die Begriffe, „Strich, Zeile, Gerade“. Auf Linie sind Parteiblätter. Die deutsche Wahlempfehlung ist ein Import. Das in den USA geübte „Endorsement“, das Vorbild für die Parteien-Empfehler ist, stammt aus einer Zeit, als die Grenzen zwischen einem Parteiblatt und einer Tageszeitung noch fließend waren. Natürlich wird auch in der Debatte über Wahlempfehlungen hierzulande geheuchelt. Wer Endorsements als „Beleidigung“ oder „Bevormundung“ der Leser bezeichnet und in diesem Zusammenhang die Unabhängigkeit der Redaktionen preist, sagt nicht einmal die halbe Wahrheit: In diesem Wahlkampf waren einige Blätter wieder in Kommentierung und Berichterstattung voll auf Kurs. Wahlempfehlungen wären ehrlicher gewesen. In dieser inszenierungswütigen Zeit mit all den eitlen, selbstverliebten, Journalisten-Darstellern fehlt es noch mehr als früher an echter Unabhängigkeit. Journalisten sollten unbequem sein und das kann auch bedeuten, dass sie in ihren Beiträgen quer zu den wirtschaftlichen Interessen und politischen Vorlieben des Arbeitgebers liegen. Die Gemeinde zu enttäuschen, die eigenen Freunde zu überraschen und den Beifall der Anderen zu riskieren, ist mutiger als jede Empfehlung für SPDCDUCSUGRÜNEFDPLINKSPARTEI. Dennoch hat auch der Autor dieser Zeilen eine Empfehlung: Wählen gehen!

Der Autor ist leitender politischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung

 

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