Deftige Ohrfeige

Wie viel Staat braucht die Presse? Als Ex-Bundesinnenminister Otto Schily im Herbst 2005 vor den deutschen Zeitungsverlegern zu diesem Thema sprach, beantwortet er die Frage mit einem knappen „so wenig wie möglich, so viel wie nötig“. Zwei Wochen zuvor waren die Redaktion der Zeitschrift „Cicero“ und die Wohnung des Autors Bruno Schirra auf Betreiben des Bundeskriminalamts von der Staatsanwaltschaft Potsdam durchsucht, etliches Material beschlagnahmt worden.

Was die Medienbranche von Beginn an unisono als eklatante Verletzung der Pressefreiheit verurteilt hatte, galt dem Minister damals als berechtigter Eingriff des Staates, der ein „Recht auf einen Schutzbereich“ habe. Die Veröffentlichung von Informationen, die auf Verrat von Dienstgeheimnissen beruhten, setzte Schily gleich mit „Hehlerei“.
Vor diesem Hintergrund kommt das am 27. Februar verkündete „Cicero“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts einer nachträglichen deftigen Ohrfeige für den obersten Staatsschützer der damaligen rot-grünen Koalition gleich. Das Gericht verurteilte die staatsanwaltliche Aktion vom Herbst 2005 nicht nur als verfassungswidrigen Eingriff in die Pressefreiheit. Die Karlsruher Richter stellten zugleich klar, dass Ermittlungen gegen Journalis­ten nicht als Vehikel dienen dürfen, um über Durchsuchungen und Beschlagnahmen an Informanten heran zu kommen. Eine eindeutige und begrüßenswerte Stärkung des verfassungsrechtlich garantierten Informantenschutzes, zugleich eine Bestätigung des „Spiegel“-Urteils von 1966.
Allerdings schließt das Gericht eine Durchsuchung von Redaktionsräumen nicht grundsätzlich aus. Diese dürfe jedoch nur dann erfolgen, wenn es konkrete Anhaltspunkte für die Betei­ligung von Journalisten am Geheimnisverrat gebe. Etwa wenn nachgewiesen werden könne, dass der Informant mit ihm die Veröffentlichung des Dienstgeheimnisses vereinbart habe. Die dju in ver.di fordert demgegenüber einen umfassenden gesetzlichen Quellenschutz, um die sich häufenden staatlichen Übergriffe abzuwehren.
Der Gesetzgeber steht nunmehr in der Pflicht, die Strafprozess­ordnung dem Geist dieses überfälligen Urteils anzupassen. Die Große Koalition sollte zugleich bei der Neuregelung der Überwachung der Telekommunikation und der Vorratsdatenspeicherung darauf achten, ihr in der Koalitionsvereinbarung gegebenes Versprechen einzulösen: „den besonderen Schutz der Journalis­ten zu sichern“. Dass die Ermittlungen gegen die Kollegen vom „Stern“ und der „Financial Times Deutschland“ – auch ihnen wird wegen der Veröffentlichung „geheimer“ BKA-Papiere „Beihilfe zum Geheimnisverrat“ vorgeworfen – sofort eingestellt werden müssen, versteht sich von selbst.

Weitere aktuelle Beiträge

Halbzeit bei der UEFA Frauen-EM

UEFA-Women’s Euro 2025 heißt das Turnier nach dem Willen des Europäischen Fußballverbands. Bei den Männern wird auf die geschlechtsspezifische Eingrenzung verzichtet. Möglichweise ein Relikt aus den Zeiten, als das Kicken selbstverständlich eine maskuline Sportart war, vermeintlich ungeeignet für die „zarte Weiblichkeit“. 
mehr »

Ist das der neue Meinungspluralismus?

Es sind nur zwei Fälle. Aber sie haben es in sich, wenn sie für eine Entwicklung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk stehen, die ein politisch bedenkliches Signal sendet. Eine Correctiv-Recherche beleuchtete Anfang Juli die Hintergründe, die nach vier Jahren zur Einstellung eines Klimapodcasts führten. Und eine Ende Juni veröffentlichte taz-Recherche fühlt den Umständen einer Reportage der Focus-online-Kolumnistin Julia Ruhs auf den Zahn, die der NDR ausstrahlte.
mehr »

Rechte Influencerinnen im Netz

Rechtextremismus und rechte Parolen verbinden viele Menschen automatisch mit testosterongesteuerten weißen Männern. Diese Zielgruppe füttert AfD-Politiker Maximilian Krah mit simplen Parolen wie: „Echte Männer sind rechts.“ Das kommt an bei Menschen, die im Laufe der Zeit irgendwann beim „Gestern“ stecken geblieben sind. Inzwischen verfangen solche rechten Klischees auch bei Frauen. Vor allem im Internet.
mehr »

Sicher ist sicher: Eigene Adressen sperren

Journalist*innen sind in den vergangenen Jahren vermehrt zum Ziel rechter Angriffe geworden. Die Zahl tätlicher Übergriffe erreichte 2024 einen Rekordwert, so eine aktuelle Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig. Die Autoren benennen die extreme Rechte als strukturell größte Bedrohung für die Pressefreiheit. Einschüchterungen oder sogar körperliche Übergriffe geschehen mitunter direkt an der eigenen Haustür. Den damit verbundenen Eingriff in das Privatleben empfinden Betroffene als besonders belastend.
mehr »