Prinzipien der Sozialversicherung durchbrochen – dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet
Mit einem „Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit“ hat die rot-grüne Koalition das vor einem Jahr erlassene Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit faktisch wieder aufgehoben. Mehr noch: Das finanzielle Risiko für Arbeitgeber, die ihre Beschäftigten widerrechtlich als Selbständige führen, ist nach dem neuen Gesetz sogar noch geringer als zu CDU-Regierungszeiten.
Das erste Gesetz gegen Scheinselbständigkeit, das vor einem Jahr verabschiedet wurde, war nicht ganz durchdacht. Es traf Berufsgruppen wie etwa Softwareingenieure, für die es nicht gedacht war. Aber es ging grundsätzlich in die richtige Richtung, wie die Proteste der Unternehmer zeigten.
Das Korrekturgesetz, das am 12. November 1999 verabschiedet wurde, ist konsequenter durchdacht. Es setzt alles außer Kraft, was Softwareingenieure auf ihrem Weg in die Selbständigkeit behindern könnte – was ja nicht verkehrt sein muß. Aber es vergißt dabei, daß es daneben auch noch die „echten“ Scheinselbständigen gibt, deren Mißbrauch man eigentlich bekämpfen wollte. Die stehen jetzt noch schlechter da als vor einem Jahr.
Im wesentlichen sind drei Punkte – rückwirkend ab 1. 1. 1999 – neu geregelt:
- Das erste Gesetz hatte die Unternehmen verpflichtet, alle „Zweifelsfälle“ unter den von ihnen beschäftigten Selbständigen der Sozialversicherung zu melden, damit deren Status überprüft werden kann. Diese Bestimmung gibt es nicht mehr. Um widerrechtlich „frei“ beschäftigte Arbeitnehmer aufzuspüren, sind die Sozialversicherungen künftig wieder auf Betriebsprüfungen und freiwillige Meldungen angewiesen.
- Das erste Gesetz hatte diese zweifelhaften Beschäftigungsverhältnisse klar definiert („Sind zwei der vier Kriterien erfüllt, wird ein Arbeitsverhältnis vermutet“). Diese Definition ist, so die Grünen, „quasi nicht mehr existent“: Sie kommt nur noch zur Anwendung, wenn Unternehmen der Sozialversicherung andere Auskünfte verweigern. In allen anderen Fällen können die Arbeitgeber künftig wieder behaupten: „Aber ich hab‘ doch nicht gewußt…“
- Das geht jetzt sogar noch leichter als zu Zeiten der CDU-Bundesregierung. Denn mit dem neuen Gesetz wurde zugleich der Grundsatz beseitigt, daß Arbeitgeber die Beiträge für Beschäftigte, die sie der Sozialversicherung nicht gemeldet haben, für bis zu vier Jahre nachzahlen müssen.
Statt der Meldepflicht führt das neue Gesetz ein freiwilliges „Anfrageverfahren“ ein, mit dem Unternehmen und Selbständige den Status der letzteren von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) überprüfen lassen können.
Das gab’s nicht mal unter Kohl: Gesetzesbruch spart Geld
Dieses Anfrageverfahren dient gleichzeitig als Persilschein für Gesetzesbrecher: Wer für seine bisher (rechtswidrig) nicht gemeldeten Scheinselbständigen bis zum 30. Juni 2000 eine solche Anfrage an die BfA stellt, braucht selbst dann keine Beiträge nachzuzahlen, wenn sich herausstellt, daß die betreffenden Freien schon seit Jahren über das Unternehmen hätten versichert werden müssen.
Dieser Beitragserlaß ist neu in der deutschen Sozialversicherung. Die Grünen verkaufen ihn als „Amnestieregelung“: Sind denn Beiträge zur Sozialversicherung eine Strafe? Eher ist dies eine Bestrafung all der Unternehmen, die ihre Arbeitgeberbeiträge bisher gesetzestreu bezahlt haben. Und der betroffenen Scheinselbständigen, denen die „amnestierten“ Beiträge später bei der Rente fehlen werden.
Noch ein zweites Prinzip der Sozialversicherung durchbricht das neue Gesetz erstmals. Die Sozialversicherungspflicht galt bisher ausnahmslos von dem Tag an, an dem eine Arbeitnehmerin ihre versicherungspflichtige Tätigkeit aufnahm. Nicht so bei Scheinselbständigen: Dort gilt die Versicherungspflicht (und damit die Beitragspflicht des Arbeitgebers) künftig erst von dem Tag an, an dem die BfA die Versicherungspflicht festgestellt hat. Und das kann dauern. Voraussetzung ist lediglich, daß der Auftraggeber einen Monat nach Vertragsbeginn eine Anfrage an die BfA richtet und die Scheinselbständige in der Zwischenzeit irgendwie (auf eigene Kosten) versichert war.
Wer auf seinem Recht beharrt, riskiert den Arbeitsplatz
Aber selbst wenn die BfA erst bei einer Betriebsprüfung feststellt, daß zum Beispiel eine Musikschule eine Pädagogin über Jahre rechtswidrig ohne Sozialversicherung beschäftigt hat, hat die Schule gute Chancen, ohne Nachzahlung davonzukommen. War die Musiklehrerin nämlich in der Zwischenzeit auf eigene Kosten versichert und hat der Auftraggeber weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt, so muß er nur nachzahlen, wenn seine Auftragnehmerin das verlangt. Wird sie das tun? Mit der Gewißheit, damit ihre Aufträge zu verlieren?
Da hilft den Freien auch die kleine Verbesserung wenig, die der Bundestag freilich nur in die Gesetzesbegründung hineingeschrieben hat: Entscheidungen der Künstlersozialversicherung sollen künftig auch für die Renten- und Krankenversicherung bindend sein. Wird also ein Freier von der KSK mit der Begründung abgelehnt, er sei gar nicht selbständig, so muß er künftig über den Arbeitgeber versichert werden. Es sei denn, der entzieht ihm aus diesem Anlaß die Aufträge!
Denn daran hat die Gesetzeskorrektur nichts geändert: Wer als „Arbeitnehmer im Sinne des Sozialgesetzbuchs“ eingestuft wird, ist noch längst kein Arbeitnehmer im Sinne des Kündigungsschutzrechts. Er kann einfach rausgeschmissen werden.
Die illegale Beschäftigung von Scheinselbständigen dürfte damit noch zunehmen: Eine Meldepflicht für Unternehmen gibt es nicht mehr; ihr finanzielles Risiko bei unterlassener Meldung ist noch geringer als zu der Zeit, da die SPD den „Mißbrauch der Scheinselbständigkeit“ beklagte und „die Flucht der Arbeitgeber aus der Sozialversicherungspflicht stoppen“ wollte. Und für die Scheinselbständigen gilt schärfer als zuvor: Wer auf seinem Recht beharrt, riskiert den Arbeitsplatz. Aus dem Kampf gegen die Scheinselbständigkeit ist ein Gesetz zur Förderung der Scheinselbständigkeit geworden.