Die Zeitschrift sticht ins Auge: ein einfallsreiches Layout im Querformat, griffiges Papier, ausgezeichnete Fotos. Die Optik kann sich sehen lassen und ist wichtig, „um den Texten einen angemessenen Rahmen zu geben“, wie Katja de Braganca, Gründerin und Chefredakteurin des ohrenkuss betont. Und tatsächlich, die Texte haben es in sich. Sie überraschen mit Poesie und Rhythmik, einer direkten Sprache und einer Art, Dinge unverblümt beim Namen zu nennen. So besonders wie die Texte sind die Autorinnen und Autoren des ohrenkuss – alle haben das Down Syndrom.
Sie haben 47 statt 46 Chromosomen, das 21. Chromosom ist dreimal da, weshalb auch von „Trisomie 21“ die Rede ist. Ärzte und Wissenschaftler meinen teilweise heute noch, dass Menschen mit Down-Syndrom weder lesen noch schreiben lernen können. Auch die Humangenetikerin Katja de Braganca glaubte dies zunächst. Als sie an der Universität alte und junge Menschen mit Down Syndrom kennen lernte, merkte sie jedoch, wie verfälschend Vorurteile sein können. Endgültig „Klick“ machte es bei ihr auf einer internationalen Tagung in Madrid: De Braganca las einen gut geschriebenen Text über Robin Hood, „mit interessanten Sätzen und schönen Metaphern.“ Der junge Autor hatte das Down-Syndrom.
Zehn Jahre später ermöglichte die Volkswagen-Stiftung ein Projekt zur Fragestellung „Wie erleben Menschen mit Down Syndrom die Welt, wie sieht die Welt Menschen mit Down Syndrom?“ Vier Hefte entstanden daraus. Angela Fritzen, ohrenkuss-Autorin der ersten Stunde, gab danach den Anstoß: „Vier Ausgaben sind noch keine Zeitschrift, wir müssen weitermachen“. Katja de Braganca war einverstanden, seitdem erscheint das Magazin zweimal im Jahr. Der Name fand sich wie von selbst bei einer der ersten Sitzungen – aus einem Kuss aufs Ohr der Redakteurin. Allen gefiel das Wort so gut, dass es blieb. Später wurde noch eine Bedeutung gefunden: Ein Ohrenkuss ist das, was Bestand hat zwischen alldem, was auf der einen Seite rein und auf der anderen raus geht.
Im ersten Jahr konnten 1.000 Abonnenten gewonnen werden, heute sind es rund 3.000. Davon können alle Rechnungen bezahlt werden – Fotos, Layout und Website werden von Externen gemacht. Auch die Autoren, die noch anderweitig arbeiten, bekommen ein kleines Honorar.
Alle zwei Wochen kommt das Team in Bonn zur Redaktionssitzung zusammen und bespricht die Hefte. Neben zwölf Bonnern schreiben rund 40 Fernkorrespondenten für den ohrenkuss. Sie produzieren alle Texte selbst – von Hand oder Computer, manchmal auch per Diktat an zusätzliche Schreibassistenten. Zensiert oder korrigiert wird nichts.
Unabhängig zu bleiben und nicht als Selbsthilfegruppe abgestempelt zu werden, ist wichtig. „Wir machen keine Lobbyarbeit, uns geht es darum, ein gutes, außergewöhnliches und anregendes Magazin zu machen“, sagt de Braganca. Mit schönen Sätzen und einer tollen Gestaltung wolle man eine Marktnische belegen. Wie gut ohrenkuss ist, zeigt das runde Dutzend Preise, die die Zeitschrift bisher erhalten hat – etwa 2004 den Ideenpreis der Körberstiftung oder 2006 den Best of Corporate Publishing Award. Gelesen wird das Magazin nicht nur von Angehörigen, Ärzten, Wissenschaftlern und Lehrern. Stetig wachse auch die Zahl von Fans aus dem Medienbereich, die sich inspirieren lassen wollen.
Der ohrenkuss widmet sich den großen Themen, so gab es Hefte über Liebe, Arbeit oder Mode. Berührend die Texte im Heft „Baby“: Die Autoren reflektieren über ihre Kindheit, Mutter- und Vaterschaft und die Zukunft des „ohrenkuss-Babys“. „Ich wünsche dem Down syndrom Baby wennes mal groß ist Daß es Lesen und Schreiben kann so wie ich“, schreibt etwa Achim Reinhardt.
Begeistert unternehmen die Autoren Reisen und spannende Ausflüge: Aus einer Mongoleireise (Foto ganz links) entstand das Mongoleiheft (ein Artikel darüber in Geo erhielt den EU-Preis „Für Vielfalt gegen Diskriminierung“), Besuche beim Schießtraining der Polizei und der Gedenkstätte Buchenwald flossen in die Ausgabe „Jenseits von Gut und Böse“ ein. 2008 wird der ohrenkuss zehn Jahre alt. Ob das Geld für eine große Geburtstagsfeier reicht, ist noch ungewiss.