Eintausend alternative Medien?

Oder warum viele bunte Blumen keinen Sommer mehr machen

Gut 40 Jahre ist es her, als in München mit dem Blatt die Mutter aller Stadtzeitungen und der Prototyp der alternativen Presse erschien. Derzeit erinnert in der Landeshauptstadt eine Ausstellung über die 1970er Jahre an diese Publikation. Und es ist ein gutes Jahr her, dass eine neue Auflage des „Handbuch Alternativmedien“ erschien, herausgegeben von Bernd Hüttner, Christiane Leidinger und Gottfried Oy. Ein verdienstvolles und zugleich gewagtes Unternehmen: Rund 1000 „alternative“ Medien listet das Buch auf, davon 472 Printmedien in Deutschland, 89 in Österreich und 104 in der Schweiz, hinzu kommen 220 unabhängige Verlage, Archive und Freie Radios. Damit liegt eine aktualisierte Version des Handbuchs von 2006/2007 vor. Und klar stellt sich die Frage, was heute eigentlich noch „alternativ“ ist.

Bernd Hüttner, Christiane Leidinger, Gottfried Oy (Hrsg.): Handbuch AlternativMedien 2011/2012. AG SPAK, Neu-Ulm 2011. 280 Seiten, 22 Euro.

 

Wenn man will, kann man die Medien der historischen Arbeiterbewegung wie die Parteizeitungen, die deutsche Arbeiterfotografie der 1920er Jahre oder den proletarischen Film als Urahnen alternativer Kommunikationsmittel sehen. Ihren originären Entstehungszusammenhang aber haben die alternativen Medien im engeren Sinne in den 1970er Jahren, als Stadtzeitungen, Videoläden und illegale Rundfunksender begannen, dem medialen Mainstream eine Alternative beizustellen. Inhaltlich ging es dabei um Themen wie Solarenergie und Widerstand gegen die Atomkraft, um ökologischen Anbau und Vollwertkost, um neue Formen des Lebens, Liebens und Arbeitens jenseits des Hamsterrades von Karriere und Bürgerlichkeit. Das geschah im Münchner Blatt, der Berliner taz oder im Radio „Dreieckland“.

Übersicht im Handbuch

Das ist alles rund vier Jahrzehnte her und das eigentlich Verblüffende ist, wie viele alternative Medien diese Zeit überstanden haben und heute noch existieren. Der Züricher Videoladen, in dem einst das legendäre Video „züri brennt“ entstand, ist dafür ein Beispiel. Eine Übersicht über die heutige alternative Medienszene gibt nun das Handbuch. Verdienstvoll ist die Arbeit wegen des Zusammentragens der Adressen und auch der Profile von rund 1.000 „alternativen“ Medien im deutschsprachigen Raum. Sie sind durch Orts-, Namen- und Sachregister sehr gut aufgeschlüsselt. Vorangestellt sind diesen Registern mehrere Aufsätze, die sich dem Thema alternative Medien in theoretischer Hinsicht nähern und die Konkretes und Praktisches aus dem alternativen Medienalltag berichten.
Gewagt ist das Unternehmen, weil der Begriff des „Alternativen“ unscharf bleibt. Warum zum Beispiel die der Zensur unterliegenden Gefängniszeitschriften aufgenommen werden, Schülerzeitungen dann aber nicht, bleibt unklar. Auch wenn im Vorwort gesagt wird: „Auch dieses Handbuch kann und will nicht die Frage klären, was alternative Medien sind“ und darauf verwiesen wird, dass „es derzeit keine weitergehende Beschäftigung mit alternativen Printmedien“ gebe – weder in der Wissenschaft noch in den alternativen Printmedien selbst –, so bleibt die Definitionsfrage doch letztlich der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Themenfeldes. Ist die taz nach Regierungsbeteiligung der Grünen, Dosenpfand und Kriegseinsatz noch „alternativ“? Und wie „alternativ“ ist die rechte Szene mit „befreiten Zonen“ und Schmuse-Nazi-Rock? Und was ist mit dem Postulat der Kommunikationsguerilla, nach dem es weniger um „alternative“ Informationen geht, als um eine soziale Bewegung, an der diese Informationen überhaupt andocken können?
Entgegen dem Vorwort wagt sich Marisol Sandoval in ihrem Handbuch-Beitrag „Warum es an der Zeit ist, den Begriff der Alternativmedien neu zu definieren“, durchaus an eine Definition von alternativen Medien. Dabei plädiert sie, dem „Idealmodell“ alternativer Medien – partizipative Produktion, kritische Inhalte und ökonomische Unabhängigkeit – zu entsagen, weil ein derartiges Idealmodell in der Wirklichkeit kaum vorkomme, und wenn, dann nur auf Kosten von „regelmäßigem Erscheinen, Qualität der Berichterstattung und öffentlicher Sichtbarkeit“. Stattdessen favorisiert sie einen Begriff des Alternativen, der den Vorrang darin sieht, „den herrschenden Meinungen und Ideen kritische Sichtweisen entgegenzusetzen“, deren Ziel die Demokratisierung und Emanzipation der Gesellschaft ist. Dann könnten alternative Medien auch kommerziell organisiert sein, als deutschsprachige Beispiele nennt sie die jungle world, den Freitag und die Schweizer WOZ.

Nischendasein

Ein paar Beiträge weiter konstatieren Bernd Hüttner und Christoph Nitz in „Die (Mosaik)Linke und ihre Medien“ im Grunde die Marginalität „herrschaftskritischer“ Publizistik in Deutschland. Der Befund: Die „klassische“ Szene der alternativen Stadtzeitungen sei längst dahingestorben. Die Auflagen von linken Tages- und Wochenzeitungen sei vergleichsweise gering (taz: 60.000; Neues Deutschland: unter 40.000; Junge Welt: 15.000). Unsere Zeit, die Wochenzeitung der DKP, erscheine längst in einem „Paralleluniversum“.
Im Grunde bilden die im Handbuch versammelten eintausend „alternativen“ Medien mehrheitlich vereinzelte bunte Blumen ab, die in Nischen auf irgendeine Art überleben, ohne je dieses Nischendasein zu verlassen. Die „klassischen“ alternativen Medien sind verschwunden, weil ein Großteil ihrer Themen („ökologische Lebensmittel“) längst im Mainstream aufgegangen sind und ihr mittlerweile gealtertes soziales Milieu in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Die politische Linke kämpft – ob sie will oder nicht – mit dem Erbe des Realsozialismus und steht nach dem geistigen Kahlschlag des Neoliberalismus vor bisher nicht eingelösten Fragen, was sie jenseits von Revolution aus dem Kapitalismus machen will.

Neue Handlungsansätze

Das Problem „alternativer“ Medien besteht also in dem allgemeinen oder gesamtgesellschaftlichen Problem, nach dem Ende sowohl des Realsozialismus und der sozialdemokratischen Reformpolitik als auch der alternativen Milieus einen neuen Gesellschaftsentwurf vorzulegen oder anzudenken, der diesseits von Utopie Handlungsansätze bietet. Wer sich die Disparität dieser Situation vergegenwärtigen will, muss sich nur aktuelle Konflikte ansehen: War die Bombardierung Libyens oder sind Waffenlieferungen an die syrische Befreiungsarmee opportun? Und löst sich mittlerweile nicht auch der „Mainstream“ unter dem Druck der Ereignisse wie der Eurokrise in Zypern auf und zeigen sich gar die „meinungsbildenden Eliten“ desorientiert (wie im Feuilleton der FAZ)? Der Begriff der alternativen Medien rührt somit heute an sehr grundlegende Fragen, die weit über klassische und wohl auch überholte Postulate wie „Teilhabe der Leser als Macher“ und ähnliches hinausgehen. Die Frage nach alternativen Medien zielt vielmehr direkt auf die Zukunft eines „Kapitalismus der Trostlosigkeit“, der inhärent selbst gar keinen Ausweg mehr kennt. „Was Alternativen zur bürokratisch abgestützten Finanzökonomie sein können, ist gänzlich unklar“, schrieb jüngst der Sozialwissenschaftler Franz Walter in der taz. Und er konstatiert: „Wohl in keiner neuzeitlichen Krise dürfte eine solche Begriffslosigkeit bei der Betrachtung von Zukunft, eben bei den Erörterungen über das ‚Danach’, geherrscht haben wie gegenwärtig.“ Und damit ist letztendlich auch das zeitgenössische Problem skizziert, das Alternative von alternativen Medien zu fassen.

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