Medienkritik: Zwischen Fußballstadien und Fanmeilen

Sexistische Beschimpfungen gegen eine ZDF-Reporterin, durchwachsene Leistungen von Moderatoren, Experten und Reportern, Bilderzensur durch die kommerzgeile UEFA, aber auch viele spannende Übertragungen – die am 10. Juli endende „UEFA Euro 2016“ hatte allerhand zu bieten. Bis zu 30 Millionen Zuschauer oder 80 Prozent Marktanteil für ARD und ZDF belegen die ungebrochene Attraktivität des Spiels auf dem grünen Rasen. Im Laufe des vierwöchigen Fußballspektaktels „vergaßen“ die öffentlich-rechtlichen Anstalten allerdings gelegentlich, ihrer Kernkompetenz ausreichend nachzugehen: der Information über das Weltgeschehen jenseits der Ereignisse zwischen Stadien und Fanmeilen.

Es begann mit einem Shitstorm. Genauer: Mit einem sexistischem Shitstorm gegen ZDF-Sportreporterin Claudia Neumann in den so genannten sozialen Medien. Die üblen und hemmungslosen Verbalausfälle gegen die erste Frau, die im deutschen Fernsehen mit der Partie Wales gegen Slowakei ein Spiel einer Männer-EM kommentierte, belegen vor allem zweierlei: Von einer Gleichberechtigung im Sportjournalismus ist man hierzulande noch immer weit entfernt. Und: Der vermeintlich ausgestorbene Vorfahr des heutigen Menschen aus dem Neandertal lebt immer noch unter uns.

Unter den männlichen Kommentatoren wechselten Licht und Schatten. Eindeutiger Aufsteiger dieser EM: das Tandem der beiden Ollis – Welke und Kahn. Welke ist der Transfer des ironischen Grundduktus seiner „Heute-Show“ in den Sport geglückt. Und Kahn besitzt überraschenderweise genügend Selbstironie, um seinen früheren eher testosterongesteuerten „Mehr-Eier, Männer!“-Diskurs vergessen zu machen. Kein Vergleich zu seinen unsäglichen Auftritten mit Katrin Müller-Hohenstein während der Euro 2012 am Strand von Usedom. Etwas unentschieden zwischen launig und streng präsentierte sich demgegenüber das Duo Opdenhövel-Scholl in der ARD. Dreier- oder Viererkette?
Dass Scholl ausgerechnet nach dem ersten Turniersieg über Italien den Bundestrainer und sein Beraterteam niedermachte, zeugt von reichlich Selbstbewusstsein eines verdienten Fußballers, der in der Vergangenheit als Drittliga-Trainer recht überschaubare Erfolge erzielte. Spötter vermuteten allerdings, hinter dieser Attacke stecke das Bestreben, das zuvor ventilierte angeblich üppige Expertenhonorar zu legitimieren. Auch wenn ARD und ZDF die im Raum stehenden Summen flugs dementierten: Etwas mehr Transparenz in dieser Frage würde den öffentlich-rechtlichen Anstalten gut anstehen. Scholls ruppige Art stand allerdings in wohltuendem Kontrast zur devoten Ranschmeiße mancher Feldreporter. So entblödete sich Jürgen Bergener direkt nach dem Herzschlag-Elfmeterschießen gegen Italien nicht, Manuel Neuer „Dank von der gesamten ARD“ für „ein weiteres tolles Spiel“ abzustatten. Ja, geht’s noch?

Nationalistische Exzesse blieben immerhin weitgehend aus. Einzig bei Tom Bartel störte gelegentlich die konsequent schwarz-rot-gold eingefärbte Brille. Und Steffen Simon sollte endlich mal jemand erklären, dass nicht jede brav auf Karteikärtchen notierte Statistik aufs Publikum losgelassen werden muss. Noch dazu zum unpassenden Zeitpunkt – etwa beim Elfmeter-Schießen. Kontemplatives Schweigen kann einem Spiel manchmal richtig gut tun.
Immerhin: Die anfänglich geübte Bilder-Zensur durch die UEFA, die Vorspiegelung einer heilen Fußballwelt im Interesse des reibungslosen Kommerzes, ließ im Laufe des Turniers nach. Was freilich auch mit abebbenden Aktivitäten der Hooligans zusammen hing. Statt Randale auf den Rängen bekam das Publikum zuletzt eher harmlose Ausschreitungen zu sehen, etwa die Versuche diverser Flitzer, Selfies mit ihrem Idol Ronaldo zu ergattern.

Rein quotenmäßig war die EM natürlich der erwartete Renner. Gut 28 Millionen Zuschauer beim Italien-Spiel in der ARD, getoppt noch von fast 30 Millionen beim EM-Aus gegen Frankreich im ZDF. Auch die Websites und Apps von ARD und ZDF verzeichneten Rekordzugriffe. Dennoch: Bei allem verständlichen Bestreben der Senderverantwortlichen, die teuren Übertragungsrechte optimal auszuwerten – dass der Fußball auch noch den größten Teil der Nachrichtensendungen dominierte, grenzte ein wenig an Overkill. So schwelgten „Tagesschau“ und „Heute“ noch 24 Stunden nach dem Sieg gegen Italien in ausführlichen Nachbetrachtungen. Demgegenüber fielen die weit dahinter verbannten Berichte über das verheerende Attentat des IS in Bagdad vergleichsweise kurz aus. Ein Attentat, das mehr als 200 Tote forderte. Es ist die Gewichtung, die hier irritiert. Fußball – die schönste Nebensache der Welt? Gut, dass nach der Pleite gegen Frankreich wieder Normalität ins Nachrichtengeschäft einkehrt.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

8,6 Prozent mehr für UCI-Beschäftigte  

Nach insgesamt fünf Verhandlungsrunden mit dem Kinokonzern UCI hat ver.di jetzt ein Tarifergebnis für die rund 600 Beschäftigten vereinbart. Demnach steigen die Löhne rückwirkend ab Januar 2023 in zwei Schritten um insgesamt 8,6 Prozent. „Mit dem Tarifergebnis ist es gelungen die hohe Inflation auszugleichen und einen Reallohnverlust abzuwenden", sagte ver.di-Verhandlungsführerin Martha Richards. Dazu hätten die Warnstreikaktionen an sieben Standorten beigetragen.
mehr »

Freie Fotografen bei der dpa streiken

Über 60 freie Fotografen und Videografen, die für die dpa arbeiten, streiken am 1. und 2. Mai bis 24 Uhr. Mit dem Warnstreik, zu dem ver.di und der DJV aufgerufen haben, fordern die Fotografen angemessene und faire Honorare für ihre weltweit genutzten journalistischen Inhalte. Die bislang gezahlten Stunden- bzw. Tagessätze entsprächen in keiner Weise den Anforderungen, heißt es unter fairehonorare.de. Die nächste Verhandlungsrunde findet am 11. Mai statt. 
mehr »

RBB: Warnstreik mit Programmausfällen

Ein ganztägiger Warnstreik beim RBB hat am 20. April wieder für erhebliche Einschränkungen im Programm gesorgt. ver.di und DJV hatten alle festen und freien Mitarbeitenden sowie die Auszubildenden dazu am Vortag der nächsten Runde der Tarifverhandlungen aufgerufen. Während man beim RBB auf der Stelle trete, gebe es bei allen anderen ARD-Anstalten eine Einigung, monierte ver.di. Das RBB-Programm war schon einmal im Januar massiv durch einen Warnstreik eingeschränkt worden. Bei der Deutschen Welle gab es eine Protestaktion gegen die Streichung des Deutschen Programms einhergehend mit Arbeitsplatzverlusten.
mehr »

Recht auf gleichen Lohn muss Bringschuld sein    

Das Bundesarbeitsgericht hat mit einem Paukenschlag das Recht von Frauen auf gleichen Lohn wie für männliche Kollegen gestärkt – ein Gesetz wäre aber noch besser als ein Urteil.
mehr »