Wie umgehen mit den Überstunden in der Lokaredaktion?
„Ich würde heute gerne früher gehen.“ Das klingt defensiv. Der Redakteur bleibt abwartend in der Tür stehen. Als ob er den Segen der Kollegen bräuchte. Da springt schon einer vom Stuhl auf. „Und was ist damit?“ Dabei wedelt er mit drei labberigen Faxseiten. „Ich wollte doch heute früher gehen.“ Das klingt nicht mal mehr trotzig, sondern nur noch besiegt. So eine Pressemitteilung ist doch schnell getippt.
In der Lokalredaktion der „Frankfurter Rundschau“ in Bad Homburg arbeiten zehn Redakteure und Redakteurinnen und eine Pauschalistin, die täglich eine vier-seitige Lokalausgabe produzieren und der Rhein-Main-Ausgabe zuarbeiten. „Wer um 17 Uhr gehen will, muß sich schon eine Menge einfallen lassen“, sagt die Lokalredakteurin Waltraud Rohloff. Gegen 18 Uhr, ja, das sei eine von allen akzeptierte Zeit, um Feierabend zu machen. Rechnerisch macht in dieser Redaktion täglich jeder 1,4 Überstunden, im Jahr etwa acht Wochen.
Das weiß auch die Chefredaktion. Deshalb wurde vor etlichen Jahren jemand befristet eingestellt, damit die Überstunden abgebaut werden konnten. Danach wurden keine mehr anerkannt. Von zusätzlichem Personal gar nicht zu reden. Was die Motivation, Stundenzettel zu führen, für lange Zeit auf Null gebracht hat.
Inzwischen haben die meisten aber die Nase so voll, daß über die Arbeitszeit wieder Buch geführt wird. „Vielleicht achtet dann jeder selbst stärker darauf, seine Arbeitszeit nicht auszudehnen“, hofft Waltraud Rohloff.
Schließlich bekommen alle ihr normales Redakteursgehalt, keiner wird übertariflich bezahlt (dies zur Info für jeden, der noch glaubt, Mehrarbeit werde mit Zulagen abgegolten).
Abstriche an den eigenen Qualitätsansprüchen?
Es ist ja nicht so, daß die Chefredaktion jemanden zur Mehrarbeit zwingt. Die Botschaft lautet: Macht soviel Zeitung wie in die tarifliche Arbeitszeit paßt. Die könne aber nur dann eingehalten werden, wenn an der Qualität Abstriche gemacht würden, hält Rohloff dagegen. Das kommt aber nicht in Frage: „Es ist einfach besser, selbst eine Debatte im Ausschuß mitzukriegen, als am nächsten Tag die bereinigte Fassung am Telefon serviert zu bekommen.“ Doch Ausschußsitzungen finden abends statt, und Abendtermine produzieren Überstunden.
Das eine ist die Qualität, das andere die Konkurrenz. Das Konkurrenzblatt wird am Montag ausführlich über das Laternenfest berichten, ein Höhepunkt in Bad Homburg. Also besucht auch Waltraud das Laternenfest. Widerwillig, weil es das ganze Wochenende kostet.
Samstags nur Freie
Inge Heinz besucht samstags nie ein Fest. Zumindest nicht dienstlich. Den Samstagsdienst hat der Ressortleiter in der Bezirksredaktion des „Wiesbadener Kurier“ kurzerhand gestrichen. Weil er sonst die durch Überstunden entstandenen freien Tage überhaupt nicht mehr unterbringen würde. Jubiläen der Freiwilligen Feuerwehr, Tage der offenen Tür und Vereinsfeiern werden bei der Tageszeitung der hessischen Landeshauptstadt von journalistischen Laien besetzt: meist Studenten oder Schüler, die zwischen 35 und 50 Pfennig pro Zeile bekommen.
Inge Heinz hat diese Woche wieder mal drei Tage hintereinander frei. Am Mittwoch fährt sie nach Frankfurt und besucht die Ausstellung in der Schirn, am Donnerstag geht sie bummeln, und Freitag ist sie zur Hochzeit ihrer Freundin eingeladen. Es ist ein Privileg, das ihr die Kollegen gönnen: Sie darf sich wünschen, wann sie frei nimmt.
Permanente Unterbesetzung
In der Rheingau-Bezirksredaktion mit vier Redakteuren und Redakteurinnen, die für jede Ausgabe zwei bis drei Seiten produzieren, wird die Arbeitszeit täglich notiert und vom Ressortleiter abgezeichnet. Und abgefeiert. Das klingt gut. So gut, daß es als Beispiel für die Arbeitszeit-Kampagne herhalten mußte. „Das hört sich viel zu simpel an,“ warnt Inge Heinz. Denn die Redaktion arbeitet in permanenter Unterbesetzung. Wenn sie frei hat, machen ihre Kollegen Überstunden.
Um Überstunden abzufeiern, Urlaub und Krankheit abzudecken, ist das vierköpfige Team zu einem Drittel des Monats auf zwei geschrumpft. Weil die Arbeit der anderen mitgemacht werden muß und weil das fremde Arbeitsgebiet mehr Aufwand erfordert, schwillt die eigene Arbeitszeit an, sobald ein Kollege oder eine Kollegin frei hat. Durchschnittlich schleppt in der Rheingau-Redaktion keiner unter 30 Überstunden vor sich her. Die Theorie: Jeder räumt täglich nach 7,3 Stunden den Schreibtisch. Damit erst gar keine Überstunde entsteht.
Was ist wichtig, was ist Luxus?
Das Thema ist in der Redaktion bis in alle Facetten diskutiert worden. Was ist wichtig? Worauf kann man verzichten? Seit die Redaktion die Seiten am Bildschirm selbst umbricht und druckfertig macht, ist die Zeit für journalistische Arbeit stark geschrumpft. Luxus kann man sich kaum mehr erlauben. Und zu Luxus wird jede Serie und jede Geschichte außerhalb des Pflichtprogramms, Luxus ist jeder Vor-Ort-Termin, Luxus ist jedes Kollegenschwätzchen.
„Ich habe lange Zeit geglaubt, es liege an mir, weil ich zu schlecht organisiert bin“, sagt Inge Heinz. Doch den Vorwurf, sie aase möglicherweise mit ihrer Zeit, läßt sie nicht mehr gelten. „Ich habe nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder 36,5 Stunden, Pflicht und starker Arbeitsdruck oder mal eine Geschichte, mit der man eigene Akzente setzt, und Überstunden.“ Ob Bad Homburg oder Wiesbaden, die beiden Redakteurinnen sind genervt vom Thema Arbeitszeit. Mit dem Unterschied, daß die Kollegin der „Frankfurter Rundschau“ gratis so viel mehr arbeitet, daß es ihrem Jahresurlaub entspricht.