Das Ereignis Kind in den Schlagzeilen
Die britische Ikone der Frauenbewegung, Germaine Greer, hat neulich über die Präsenz von Frauen in den Medien gesagt: „Frauen sind auf seltsame Weise unfähig, Schlagzeilen zu machen, es sei denn, sie sind mit einem Staatsoberhaupt verheiratet oder nackt oder durch einen Triumph der Technik schwanger oder Opfer eines grauenhaften Verbrechens.“
Essay von Ursula Ott
Kinder, so mein Eindruck, sind erst recht unfähig, Schlagzeilen zu machen, es sei denn sie können ihre Handyschulden bei der Telekom nicht begleichen, schreiben kurz vorm Abitur noch immer Vater mit F, metzeln nach Genuss eines blutrünstigen Videos die eigene Großmutter oder sind Opfer eines international operierenden Kinderporno-Rings.
Das gilt nicht nur für die Boulevardpresse. Der „Spiegel“ titelte letztes Jahr: „Alles haben, alles dürfen, alles wollen“ – daneben ein aufgeblasener Knirps, dem die Mutter die Schnürsenkel bindet: „Die verwöhnten Kleinen“.
Na klar, wer kennt sie nicht. Die kleinen Rauschgoldengel im Gucci-Kleid, mit Prada-Schühchen und einem Sparkonto, von dem manche Rentnerin nur träumen kann. Über sie zu berichten, ist ganz einfach, denn über sie gibt es so viel Marktforschung wie über kaum eine andere Gruppe der Bevölkerung: sie haben 5,2 Milliarden Mark in der Tasche, geben pro Jahr 18 Millionen davon aus, sie kaufen 40 Prozent der Levis Jeans und entscheiden über den Kauf von Automarken, CD-Playern und Zahnpasta.
Kid-Power hieß eine Tagung, die im November in Berlin stattfand, mit Themen wie: „Verjüngung des Markenimages ohne Altkunden zu irritieren“, „Wer ist Quaxel – Die Sprache der Kids“ oder „Wie erreiche ich die Kids-Zielgruppe und welche Mittel sind nötig?“
Am meisten nervt mich daran das Wort „Kids“. Ich habe neulich den Vortrag des Germanisten Gerhard Stickel gehört, der das Hohelied auf die Amerikanismen gesungen hat: Das englische Wort „Kids“ sei keineswegs überflüssig, so seine These, es konnotiere etwas ganz anderes als das deutsche Wort „Kinder“. Kein Mensch komme zum Beispiel abends nach Hause und sage, „Ich mache meinen Kids jetzt mal Abendbrot.“
Kids sind cool. Neugeboren, sitzen sie im schwarzen Babyjogger, mit einem Jahr haben sie eine Baseball-Kappe von Gap falschrum auf dem Kopf, mit fünf einen Computer, mit acht ein Handy, und mit 16 spekulieren sie an der Börse, damit sie mit 20 ihre eigene Internet-Firma aufmachen können. Das ist eine gute Geschichte.
Bei echten Kindern daheim geht’s manchmal nicht so telegen zur Sache. Eine Million von ihnen bezieht Sozialhilfe, eine weitere Million liegt knapp über der Grenze. Ihr Haushaltseinkommen ist unerforscht, weil irrelevant für Werber und Marketing-Experten. Um über diese zwei Millionen Kinder zu schreiben, müsste der „Spiegel“-Redakteur sein Büro an der feinen Hamburger Brandstwiete verlassen, er müsste in die versiffte S-Bahn nach Wilhelmsburg steigen und mit stinkenden Aufzügen in schlecht gelüftete Wohnungen fahren, wo Sozialhilfeempfänger in der dritten Generation wohnen. Wo die Kinderwagen hässliche kleine Enten tragen, weil sie schon in 7. oder 8. Hand sind. Könnte auch eine gute Geschichte sein, aber sie ist viel lästiger zu recherchieren.
Wie viel einfacher ist es da, an der Hamburger Außenalster auf der Parkbank zu sitzen und über Kinder zu rechten, die auf „einem bis zu 500 Mark teuren Tretroller fahren“. Schade, dass dem Autor beim Thema Tretroller – die gibt’s übrigens schon für 99 Mark – nichts anderes aufgefallen ist. Ich wundere mich schon seit Jahren, wie weit die Infantilisierung der skateboardenden Manager, der bauchnabelfreien Mütter und der rollerfahrenden Politiker noch getrieben wird? Und ich freue mich schon über jedes Kind, das sich einen Tretroller wünscht – Mensch, für Kinder sind die doch gemacht!
Der Kapitalismus ernährt seine Kinder – und die haben schlicht die Lektion begriffen. Outfit, Location, Food, das sind die Markenzeichen dieser Zeit. Erwachsene machen was vor, Kinder machen es nach, denn Kinder sind schlau.
Womit wir schon beim zweiten Thema wären: Sind Kinder dümmer als früher? In internationalen Mathe-Tests schneiden die deutschen Schüler angeblich besonders schlecht ab, sie wissen nicht mehr, was in Pearl Harbour passiert ist und was eine Fünf-Prozent-Hürde ist – und reden tun sie in den Sprechblasen der Comics.
Darüber schreiben wir Journalisten gern. Erstens weil es Herr Hundt behauptet, und wir schreiben gerne über Herrn Hundt, der ist wichtig. Zweitens weil es uns notorischen Besserwissern, die wir Journalisten nun mal sind, gut in den Kram passt: Alles was dümmer ist, lässt uns nur noch schlauer aussehen. Und drittens, weil wir unseren Lesern gerne einfache Antworten auf schwierige Fragen geben. Und mit dummen Schülern lässt sich die halbe Misere des Abendlandes erklären: Der Niedergang des Buchmarktes, die Krise des Wirtschaftsstandortes Deutschland, die fehlenden IT-Fachkräfte, der Mangel an Nobelpreisen. An allem sind die dummen Schüler schuld.
Ein klassischer Nachrichtenfaktor allerdings fehlt: Eigentlich müssen Nachrichten etwas Neues transportieren – und die Message von den dummen Schülern ist mindestens von vorgestern. Ich hatte dieser Tage meine eigene Abiturzeitung in den Händen. Das war vor fast 20 Jahren, und schon damals mussten wir lesen, dass wir für den Arbeitsmarkt quasi verloren seien, weil wir im Abitur nicht mehr zwangsweise in Mathe und Deutsch geprüft würden.
Neulich hatten wir Klassentreffen, und – surprise, surprise – aus allen war was geworden. Der eine spielt Cello im spanischen Nationalorchester, der zweite verkauft Windkraftwerke in China, die Dritte macht Werbung für BMW. Und das ganz ohne Abi in Mathe und Deutsch.
Und ich bin ganz sicher, wenn sich der Abi-Jahrgang 2001 in zehn Jahren zum Klassentreffen versammelt, wird es ähnlich aussehen: Der eine wird wilde Websites gestalten, die zweite eine Agentur für abseitige Dienstleistungen gründen, und im besten Fall werden sie alle weniger arbeiten als die Generation ihrer Eltern.
Weil die Nachricht über die dummen Kinder nicht wirklich neu ist, muss sie „zugespitzt“ werden. Zum Beispiel so. Dramatisch zugenommen habe die Hyperaktivitätsstörung, zu deutsch: die chronischen Zappelphilippe, die in der Tat manche Mutter und manchen Lehrer zum Wahnsinn treiben. Mindestens sechs Prozent aller deutschen Schulkinder sollen betroffen sein, melden Psychologenverbände, und wir schreiben das gerne ab.
Was steckt dahinter? Wo eine Diagnose, da auch eine Behandlung. Therapeuten und Krankengymnastinnen arbeiten sich an den kleinen Hyperaktiven ab, und die Pharmaindustrie träumt von amerikanischen Verhältnissen, wo ganze Schulklassen mit dem Psycho-Wirkstoff Retalin behandelt werden. Nur in „Kind & Kegel“ habe ich diese Seite der Geschichte gesehen: Dass die kleinen Hyperaktivlinge zwar nerven – aber auch ganz besonders neugierig, unangepasst und kreativ sind. Auf den zweiten Blick schloss man sie ins Herz, diese rastlosen Unruhegeister, und sie waren keine kleinen Monster mehr.
Kleine Monster – das ist das dritte Klischee, als das Kinder uns in den Medien überhaupt noch begegnen. Großalarm selbst bei seriösen Medien wie dem „Spiegel“: „Die kleinen Monster“. Die Zahlen, die da referiert wurden, sind in der Tat bedrohlich: Schon 150000 Kinder unter 14 wurden letztes Jahr bei der Polizei angezeigt, ihr Anteil an allen Tatverdächtigen stieg fast um das Doppelte an in den letzten Jahren.
Dabei ist die Polizei, die solche Zahlen sammelt, äußerst zurückhaltend. Beim BKA weiß man genau, dass manchmal schon die veränderten Versicherungsbedingungen dazu führen, dass jeder Taschendiebstahl gemeldet wird. Dass ein angezeigtes Kind noch kein verurteiltes Kind ist. Dass die Dunkelziffer sowieso enorm ist.
Aber wir Journalisten wollen es gar nicht so genau wissen. Irgendwie, so konnte man im jüngsten „Spiegel“ über verwöhnte Kinder lesen, irgendwie hängt doch alles mit allem zusammen. Weil sie verhätschelt und verzärtelt werden, gibt es schon eine Million „Problemkinder“ – und wenn wir nicht auf sie aufpassen, dann werden sie alle kriminell und klauen unsere Handys.
Problemkinder ist ein tolles Wort. In einer Gesellschaft, in der nur noch jedes zweite Paar ein Kind bekommt, im Journalismus, dessen Arbeitszeiten selten kompatibel sind mit den Öffnungszeiten deutscher Kindergärten und Schulen – da wird das Kind an sich zum Problem.
Eine Studie der Deutschen Forschungsgemeinschaft ergab: Sogenannte soziale Themen werden dramatisch häufiger von weiblichen Journalisten aufgegriffen. Die haben aber zum allergrößten Teil keine eigenen Kinder, weil sie die Erziehung nicht mit dem Job vereinbaren können. Zwei Drittel aller deutschen Journalistinnen sind kinderlos. Journalisten-Mütter mit zwei Kindern gar sind eine radikale Minderheit: Noch nicht einmal jede 6. Kollegin traut sich diesen Spagat zu.
Woher sollen diese mehr oder weniger Kinderlosen eigentlich wissen, was Kinder essen, wie sie lernen, welche Sprache sie sprechen? Und wie man einem Kind ein fernseh-gerechtes Statement entlockt? Ich habe in der ersten Woche meiner Ausbildung an der Journalistenschule gelernt, wie man Franz-Josef Strauß interviewt – der lebte damals noch und galt als besonders harter Brocken. Wie man ein kleines Mädchen befragt, das noch nie in ein Mikrofon gesprochen hat, hat mir nie jemand beigebracht.
Zumindest hier gibt es übrigens Abhilfe: Beim WDR lernt neuerdings jeder Volontär und jede Volontärin, wie man Kinder interviewt und welche Themen spannend sind von und über Kinder. Dass man sich mit den Kindern auf einen Baum oder in eine Spielzeug-Röhre hocken kann, damit beide gleich groß sind. Dass Kinder nicht nur ein Problem sind, das man lösen muss. Sondern dass sie auch Spaß machen, clever und saukomisch sind. Eine griffige Schlagzeile mag das nicht hergeben – aber es ist eine wirklich gute Geschichte!