Medienwissenschaftler Prof. Gerd Hallenberger (Marburg), Mitglied des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen, über das schwierige Feld der Wirkungsforschung.
M | Macht der Konsum gewalthaltiger medialer Darstellungen jugendliche Nutzer gewalttätig?
GERD HALLENBERGER | Die Antwort ist gar nicht so einfach. Es kursieren nach wie vor verschiedene Vermutungen, wie sich Gewaltdarstellungen auswirken. Im Grunde lässt sich nur eins mit Sicherheit sagen: Leben Jugendliche in einem gewalttätigen Umfeld, haben Gewaltdarstellungen eine verstärkende Wirkung. Sie erzeugen keine Gewalt, stabilisieren aber entsprechende Haltungen. Erlebte Gewalt ist als Auslöser für eigene Gewalttätigkeit jedoch ungleich wichtiger als medial erlebte Gewalt.
M | Lange Zeit hat sich die Wirkungsforschung am „Stimulus/Response“-Modell orientiert, einem schlichten Prinzip von Ursache und Wirkung. Warum ist die Wirklichkeit komplexer?
HALLENBERGER | Medienangebote wirken nicht wie Medikamente. Man kann nicht von einem bestimmten Input auf einen konkreten Output schließen. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, beim Fernsehen lasse man sich berieseln, ist Medienkonsum in der Regel eine äußerst aktive Tätigkeit. Man muss zum Beispiel eine kognitive Leistung vollbringen, damit aus dem Flimmern und Rauschen Bilder und Töne werden. Jeder, der ein Medium nutzt, stellt aus dem Angebot etwas her, das für ihn einen Sinn ergibt.
M | Und dieser Sinn ist von Nutzer zu Nutzer unterschiedlich?
HALLENBERGER | Genau, und deshalb kommt Wissenschaft ins Schleudern: Zwei Menschen mögen zwar den gleichen Film sehen, nehmen jedoch nicht dasselbe wahr. Kommunikationswissenschaft ist ja daran interessiert, massenhaften Medienwirkungsphänomen auf die Spur zu kommen, aber streng genommen müsste man jeden Einzelfall untersuchen: Wer schaut was in welcher Situation und mit welchem Ziel. Deshalb lässt sich Medienkonsum nur schwer aggregieren, also auf große Zahlen bringen.
M | Mit solchen Zahlen operieren aber gerade Politiker immer wieder gern; vor allem im Bereich des Jugendschutzes.
HALLENBERGER | Natürlich ist es unbefriedigend, wenn die Wissenschaft in dieser Hinsicht Antworten schuldig bleibt. Infolgedessen wird in der Öffentlichkeit vorzugsweise mit eher schlichten Erkenntnissen hantiert. Von Medienwirkung kann man ohnehin eher im metaphorischen Sinn sprechen.
M | Wundert es Sie, dass der Jugendschutz eher als Metapher wahrgenommen wird?
HALLENBERGER | Und trotzdem brauchen wir ihn. Allerdings kann er nur ein Baustein innerhalb eines Ensembles sein. Ebenso wichtig ist eine systematische Entwicklung und Förderung von Medienkompetenz bei Kindern und Jugendlichen. Und das heißt nicht, dass sie einen Computer bedienen können und wissen, wie man sich im Internet vor Viren schützt. Viel wichtiger ist das Wissen, wie man sinnvoll mit Medienangeboten umgeht. Medienkompetenz ist vor allem kulturelle Kompetenz.
M | Welche Rolle spielen dabei die Eltern?
HALLENBERGER | Eine Schlüsselrolle. So lange es den Eltern vollkommen egal ist, welche Medienangebote ihre Kinder konsumieren, ist auch der beste Jugendmedienschutz auf verlorenem Posten. Was nutzt zum Beispiel eine Sendezeitbeschränkung, wenn Eltern zulassen, dass ihre kleinen Kinder noch nach 23 Uhr vor dem Fernseher sitzen?
M | Sollten Eltern einen Medienführerschein machen?
HALLENBERGER | Es gibt schon genug Bereiche in unserer Gesellschaft, für die man eine Lizenz braucht. Wichtiger wäre es, dass systematischer als bisher versucht wird, Eltern klar zu machen, wie wichtig sie als Vorbild für ihre Kinder sind.
Wenn das, was man vorlebt, nicht den Regeln entspricht, die man selbst aufgestellt hat, wirken diese Regeln ziemlich unglaubwürdig.
M | Spiegelt sich im Diskurs um den Jugendschutz auch die Frage, in welcher Gesellschaft wir unsere Kinder aufwachsen lassen?
HALLENBERGER | Natürlich. In öffentlichen Debatten um Medien steht zumeist die Frage im Vordergrund, wie sie den größten ökonomischen Gewinn abwerfen. Am Ende geht es immer um Arbeitsplätze und damit um Standortpolitik. Da darf man sich nicht wundern, dass inhaltliche Fragen auch im privaten Bereich keine große Rolle spielen.
M | Selbsternannte Jugendschützer empören sich immer wieder über „Baller-“ oder „Killerspiele“. Deutet die Begeisterung für solche Spiele auf ein grundsätzliches Problem hin?
HALLENBERGER | Diese Spiele werden in einem hohen Maß von Jugendlichen mit schlechter schulischer Ausbildung gespielt. Sie haben zwar offenbar ein hohes Maß an Leistungsethos verinnerlicht, sehen für sich aber keine Chance, jemals eine entsprechende Leistung zu erbringen. Die Spiele bieten ihnen die Möglichkeit, Leistung zumindest symbolisch zu erbringen, zumal es ja auch Belohnungen gibt. Natürlich weiß jeder Teilnehmer, dass es sich nur um ein Spiel handelt. Aber die Handlungen werden symbolisch ungleich stärker aufgeladen, wenn es um existenzielle Dinge wie Leben und Tod geht.
Das Gespräch führte Tilmann P. Gangloff