Verlegersicht: Tagesschau-App ein Killer für freie Presse im Netz
Nach Finanzkrise, Staatsüberschuldung und drohenden Börsencrash schon wieder eine Hiobsbotschaft: Die Pressefreiheit in Deutschland ist in akuter Gefahr. Und wer sägt an einem der Grundpfeiler dieser Gesellschaft, am heiligen Artikel 5?
Sind es Großverlage, die – selbstverständlich im Interesse des „Qualitätsjournalismus“ – gern mal so eben ganze Redaktionen entsorgen, um einen Teil der Entlassenen zu drastisch verschlechterten Konditionen in ausgelagerten Unternehmen wieder anzuheuern? Sind es Verleger, die ihren freien Mitarbeitern Geschäftsbedingungen aufdrücken, die diesen unterm Strich nach Jahren harter Zeilenschinderei kein christliches Begräbnis mehr erlauben? Sind es die vereinten Verlegerverbände, deren Lobby sich gerade aufmacht, bei der Regierung eine Aufweichung der Fusionskontrolle einzufordern, auf dass demnächst die in den siebziger Jahren gestoppte Pressekonzentrationswelle wieder über uns hereinbricht?
Nein, nein, dreimal nein. Schuld am baldigen Niedergang einer freien Presse ist – die Tagesschau-App! Eine Idee, auf die ein Normalsterblicher nicht ohne Weiteres kommen dürfte. Aber es gibt Menschen, die offenbar fest daran glauben. Zum Beispiel Christian Nienhaus, Geschäftsführer der Essener WAZ-Gruppe. Ein Herold just jenes Unternehmens, das vor zwei Jahren dreihundert von 900 Stellen strich – sozialverträglich, versteht sich! – und die Mäntel von drei ihrer vier großen Zeitungstitel im Revier seither – es lebe die Vielfalt! – von einer gemeinsamen Redaktion herstellen lässt. „Wir wehren uns gegen die textdominante Berichterstattung in der Tagesschau-App ohne Sendungsbezug“, sagt nun ebendieser Nienhaus.
Kölner Richter ratlos
Worum geht es? Letztes Jahr zu Weihnachten startete die ARD ihr kostenloses mobiles Internetangebot, eben die „Tagesschau“-App. Eine echte Erfolgsstory – bislang wurde diese Anwendung fast 2,5 Millionen Mal heruntergeladen. Die Verlage dagegen haben mit ihren meist kostenpflichtigen Angeboten höchstens ein paar Tausend oder Zehntausend Abrufe erzielt. Anders als die ARD wollen sie damit allerdings Geld verdienen. Das ist legitim, aber dabei ist ihnen das Gratisangebot der Öffentlich-Rechtlichen ein Dorn im Auge. Wettbewerbsverzerrung, so schnauben die Verleger. Man könne schließlich kein Bier verkaufen, wenn es nebenan Freibier gebe. Aus Verbrauchersicht eigentlich ein schönes Bild. Aber die Verleger meinen es ernst. Und deshalb haben acht der renommiertesten aus ihren Reihen eine Klage gegen die ARD angestrengt. Darunter DuMont Schauberg, der seit einiger Zeit in den Mänteln von Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung einen veritablen Einheitsbrei anrührt. Oder die FAZ, der ARD besonders „freundschaftlich“ verbunden: Sie sah schon vor zwei Jahren beim Drei-Stufen-Test die „Herrschaft des Staatsjournalismus“ und das „Ende der freien Presse“ heraufdämmern. Oder Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner, der die Klage als „Warnruf einer ganzen Branche“ begreift.
Ins gleiche Horn bläst folgerichtig auch Dietmar Wolff, Hauptgeschäftsführer des BDZV: Gebührenfinanzierte Gratis-Apps wie beispielsweise die inkriminierte „Tagesschau“-App seien „Killer für ein digitales Geschäftsmodell der Presse und ein „staatlich finanziertes Presseprodukt“. Bemerkenswert daran ist zunächst, dass der Lobbyist einer Branche, die selbst über den gern akzeptierten ermäßigten Mehrwertsteuersatz indirekt mit Staatsknete subventioniert wird, den Unterschied zwischen staatlich und öffentlich-rechtlich nicht zu kennen scheint. Aber die vermutete Gefährdung der eigenen Geschäftsinteressen durch ein Angebot wie die Tagesschau-App gleich zum Menetekel für die freie Presse zu stilisieren – das ist denn doch starker Tobak.
Wie es aussieht, wird das Publikum noch eine ganze Weile mit dem mäßig unterhaltsamen Spektakel behelligt werden. Einige Medienjuristen dürften sich goldene Nasen verdienen mit Gutachten zur Klärung tückischer Begriffe wie „presseähnliches Angebot“. Bei der ersten Konfrontation der streitenden Parteien gab sich der Vorsitzende Richter des Kölner Landgerichts jedenfalls ratlos: „Worüber genau sollen wir befinden?“ Gute Frage!
Textbeiträge müssten aus der Tagesschau-App verschwinden, darauf läuft das Verlegerbegehren wohl hinaus. Will sagen, im Netz sollen ARD und ZDF für bunte Bilder und Filme, garniert allenfalls mit ein paar rachitischen Erläuterungen, zuständig sein. Die hintergründige, ausführliche Textinformation dagegen sollen sie gefälligst den Verlegern überlassen. Ein Ansinnen, das medienrechtlich kaum abgesichert sein dürfte und medienpolitisch an Absurdität kaum zu toppen ist.
Millionen Menschen sehen täglich die „Tagesschau“. Übrigens kein Gratisangebot, sondern ermöglicht durch die monatlich erhobene Rundfunkgebühr. Was wiederum weitere Millionen Menschen nicht an der täglichen Lektüre einer Tageszeitung hindert. „Warum soll sich das fundamental ändern, nur weil in Zukunft zwischen den Angeboten kein Medienbruch mehr verläuft, sondern sie als Apps im gleichen Online-Laden angeboten werden?“ fragt zu Recht Stefan Niggemeier in der FAZ (!). Zugleich verweist er auf das außerordentlich informative reichhaltig mit Filmen, Radiobeiträgen und Korrespondentenberichten verlinkte Web-Angebot der Tagesschau: „Wollen wir als Gebührenzahler und Staatsbürger wirklich diesen Zugewinn an Informationstiefe und die Möglichkeit eines solidarisch finanzierten, für jedermann frei zugänglichen seriösen, und vergleichsweise ausgeruhten Informationsangebots künstlich beschneiden? Damit Springer mehr ‚Bild’-Apps verkaufen kann?“
Information hat Vorrang
Sicher nicht. Für die Informationsfreiheit der Bürger wäre eine solche Entwicklung jedenfalls ein weiterer Rückschlag. Wie schon bei der letzten Auseinandersetzung um die Online-Präsenz beim ARD- Informationsflaggschiff tagesschau.de. Bekanntlich wurden damals auf Betreiben der Verleger bis zu 80 Prozent der angebotenen Inhalte offline gestellt.
Käme es erneut so, wäre es wohl kaum ein Sieg für die Pressefreiheit. Eher für die Presseverleger, die nach jahrelangem Tiefschlaf in Sachen Online-Journalismus jetzt um ein vermeintlich lukratives Geschäftsmodell fürchten. Nach wie vor gilt aber: Das Erkenntnis- und Informationsinteresse der Allgemeinheit geht vor das Gewinninteresse privater Medienbetreiber.
Günter Herkel
Günter Herkel lebt in Berlin und arbeitet als freier Medienjournalist für Branchenmagazine in Print und Rundfunk