Knapp daneben ist auch vorbei

Karikatur: toonpool.com/ Freimut Woessner

Die Meinungsforschung – eine Wissenschaft mit vielen Variablen

Die Meinungsforschung hat derzeit keinen leichten Stand. Ob Brexit-Abstimmung, Trump-Wahl oder der fulminante Einzug der AfD in diverse Landtage: Allerorten wird den Forschungsinstituten Totalversagen vorgeworfen, gern von Journalistinnen und Journalisten. Aber schauen diese auch richtig hin? Und welche Macht haben Wahlumfragen überhaupt?

Karikatur: toonpool.com/ Freimut Woessner

„Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, welche der folgenden Parteien würden Sie wählen?” – Jeder kennt die Sonntagsfrage. Die Veröffentlichung von Wahlumfragen ist fester Bestandteil der Medienberichterstattung. Die Wahlforschung ist dabei ein stetiger Quell neuer Nachrichten für die Medien. Sie sind es in aller Regel auch, die die Umfragen selbst in Auftrag geben – sei es der ARD-Deutschlandtrend (Infratest dimap), das ZDF-Politbarometer (Forschungsgruppe Wahlen) oder der stern-RTL-Wahltrend (Forsa). Der vermeintlich sichere Blick in die Zukunft fasziniert jedoch nicht nur den Leser, Hörer oder Zuschauer und sichert damit mediale Aufmerksamkeit, er beeinflusst auch den politischen Raum. Wenn Wahlumfragen im wöchentlichen Takt auf das Publikum niederrieseln und medial inszeniert werden – Wer liegt vorn? Wer holt auf? Wer verliert? – bleibt das nicht wirkungslos.

Statistische Unschärfe

Dabei baut dieser „Horse race journalism” aus Zahlen eine Dramaturgie, die bei genauerem Hinsehen so manches Mal in sich zusammenfallen würde. Legte man etwa die Ergebnisse verschiedener Umfrage­institute nebeneinander, könnte man erkennen, dass andere Institute durchaus zu anderen Ergebnissen kommen können. Noch wichtiger jedoch: Bei jeder Umfrage gibt es eine Fehlertoleranz, also Spielraum bei der Interpretation der Ergebnisse. Da jede Erhebung nur aus Stichproben besteht, bleibt eine statistische Unschärfe. Mit Hilfe statistischer Methoden kann man der „Wahrheit” lediglich näher kommen.

Für die Sonntagsfrage werden beispielsweise 1.000 zufällig ausgewählte Menschen in Deutschland befragt. Damit die Repräsentativität gewährleistet ist, muss jede und jeder Wahlberechtigte mit annähernd gleicher Wahrscheinlichkeit in die Stichprobe gelangen können. Aus den erhobenen Werten werden dann mit statistischen Verfahren Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit, also alle Wahlberechtigten, gezogen. Weil die Auswahl der 1.000 Befragten dabei auch zufällig „danebenliegen” kann, wird ein sogenannter Zufallsfehler in die Berechnung einbezogen. Am Ende stehen ein Schätzwert, ein Abweichungskorridor und eine Wahrscheinlichkeit. Geben beispielsweise 100 von 1.000 Befragten an, die AfD wählen zu wollen, läge der Schätzwert für die Partei bei zehn Prozent mit einer Abweichung von jeweils etwa zwei Prozent nach oben und unten. Das heißt, es könnten auch nur acht oder gar zwölf Prozent sein. Die Wahrscheinlichkeit für ein Wahlergebnis innerhalb dieses Korridors liegt zudem bei 95 Prozent.

In der medialen Berichterstattung fallen diese Feinheiten aber immer wieder unter den Tisch. Dabei zeigen sie deutlich, wie fragil Meinungsforschung ist. Kommuniziert werden stattdessen absolute Zahlen, die zudem einen vermeintlichen Trend aufzeigen sollen, häufig aber innerhalb der statistischen Fehler­toleranz liegen. So entstehen Zerrbilder einer Öffentlichkeit, die in vielen Fällen vermutlich weniger wankelmütig ist, als sie erscheint. Wer wollte, konnte etwa bei der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten durchaus sehen, dass das Ergebnis von der Fehler­toleranz gedeckt war; ganz zu schweigen vom amerikanischen Wahlmänner-System, bei dem eben nicht die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen („popular vote”) entscheidet. Dennoch tragen auch die Meinungsforscherinnen und Meinungsforscher eine Verantwortung, ihre Zahlen solide zu erheben und auszuwerten. Dass sie bei ihrer Arbeit vor großen Herausforderungen stehen, macht es nicht leichter.

Weniger Bereitschaft

So wird die Sonntagsfrage etwa telefonisch durchgeführt. Dafür werden zufällige Festnetznummern ausgewählt und angerufen. Neben der Tatsache, dass ohnehin immer weniger Menschen bereit sind, sich an telefonischen Umfragen zu beteiligen, kommt hinzu, dass der Anteil an Festnetzanschlüssen stetig abnimmt. Vor allem jüngere Menschen sind oftmals nur noch mobil zu erreichen. So werden die Ergebnisse bereits an dieser Stelle ein Stück verzerrt. Darüber hinaus stellen insbesondere Nichtwählerinnen und Nichtwähler sowie Unentschlossene ein erhebliches Problem für die Meinungsforschung dar. Es liegt in der Natur der Sache, dass ihr potenzielles Abstimmungsverhalten nicht abgebildet werden kann. Vor allem aber dass die Wahlentscheidung bei vielen Menschen immer näher an den Wahltag heranrückt, stellt die Demoskopen vor eine „diagnostische Lücke”. Gleiches gilt für die kurzfristige Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern, wenn diese nicht mehr erfasst werden können.

Hinzu kommen zwei vielfach vermutete und nicht zu unterschätzende Verzerrungseffekte. Der eine besagt, dass vor allem jene Menschen an Wahlumfragen teilnehmen, die ohnehin interessierter an Politik sind. Der andere geht davon aus, dass Menschen bei persönlichen Befragungen weniger Ehrlichkeit an den Tag legen und eher sozial erwünschte Antworten geben. Nach dieser These würden sich beispielsweise die Anhängerinnen und Anhänger der AfD weniger häufig zu erkennen geben, um nicht als „rechtsradikal” oder „rassistisch” abgestempelt zu werden. So gelten gerade populistische Wahlkämpfe, bei denen es oft um umstrittene und hochemotionale Themen geht, als schwieriger für die Meinungsforschung. Dahinter steht die Annahme, dass die Bindung an die politischen Lager abnimmt und die Menschen deshalb für populistische Strömungen anfälliger seien. Diese Sicht lässt jedoch außer Acht, dass jemand wie Donald Trump den Populismus keinesfalls erfunden hat. In der Vergangenheit ging es in deutschen Wahlkämpfen regelmäßig ordentlich populistisch zu – man erinnere sich an die CDU-Wahlplakate „Kinder statt Inder” oder die „Rote Socken”-Kampagnen der Union.

Last but not least spielt in der Meinungsforschung natürlich auch die richtige Fragestellung eine entscheidende Rolle, da sie die Antwort massiv beeinflussen kann. Was bei der Sonntagsfrage noch unumstritten ist („Wen würden Sie wählen?”), wird bei anderen Sachverhalten schon komplizierter. So macht es zum Beispiel einen Unterschied, ob man die Menschen fragt „Soll die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beenden?” oder ob man in der Frage deutlich macht, dass dies auch Auswirkungen auf das EU-­Türkei-Flüchtlingsabkommen und damit die Flüchtlingszahlen haben könnte.

Machen Prognosen Politik?

All diese Aspekte spielen eine Rolle, wenn Demos­kopen mit Wahrscheinlichkeiten hantieren. Inwiefern veröffentlichte Meinungsumfragen aber auch politische Trends be­fördern oder gar Politik machen, ist in der Kommunikationsforschung nicht eindeutig geklärt. So geht etwa die „Bandwagon-Hypothese” davon aus, dass Prognosen vor allem erfolgreich wirkenden Parteien nützen, weil Wählerinnen und Wähler auf den attraktiven Siegeszug aufspringen. Dem entgegen steht die „Underdog-Hypothese”, wonach gerade schwächelnde Parteien mit Stimmen rechnen können, damit die drohende Niederlage abgewendet wird. Droht eine Partei jedoch an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern, kann die „Fallbeil-Hypothese” für sie zum Verhängnis werden. Danach wollen Wählerinnen und Wähler ihre Stimmen keinesfalls verschenken – und geben sie lieber einer aussichtsreicheren Partei. Genau anders herum verhält es sich bei der These von der „coalition insurance”, bei der gerade Parteien, die an der Sperrklausel zu scheitern drohen, Stimmen erhalten zu Lasten des potenziellen größeren Koalitionspartners.

Welcher Theorie man auch immer Glauben schenken mag, an einer Weiterentwicklung ihrer Umfrage­methoden kommen die Meinungsforscher_innen nicht vorbei. Potenzial liegt hier in der anhaltend zunehmenden Bedeutung des Internets. Befragungen lassen sich einigermaßen einfach und preiswert online durchführen. Das Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov etwa erhebt seine Daten bei seinen registrierten Nutzerinnen und Nutzern. Über Prämien werden diese motiviert, an Umfragen aller Art teilzunehmen. Auch die Sonntagsfrage wird hier regelmäßig gestellt (INSA-Meinungstrend). Doch auch hier ist das Problem der Repräsentativität der Stichprobe nicht gelöst, da nur „Onliner” befragt werden und nur jene, die sich vorher auf der Plattform registriert haben. Eine generelle Umstellung auf Onlinebefragungen durch die Meinungsforschungsinstitute ist deshalb keine Lösung, da im Gegensatz zum guten alten Telefonbuch kein bundesweites E-Mail-Verzeichnis vorliegt.

Mehr Transparenz notwendig

Bleibt der unerschöpfliche Datenquell aus dem Internet. So nutzen Unternehmen bereits die Äußerungen von Menschen in den sozialen Netzwerken für die Meinungsforschung. Mithilfe sogenannter Sentimentanalysen ziehen sie Rückschlüsse auf Einstellungen und Wahlverhalten. Bei der Entscheidung zum Brexit und der Wahl von Donald Trump kamen die Social-Media-Analysen den Endergebnissen näher als so manche Umfrage – auch wenn sie damit noch keine Allgemeingültigkeit für sich reklamieren können.

Unabhängig vom Ausgang dieser Entwicklungen ist jedenfalls eines schon jetzt sicher: Die Meinungsforschung ist und bleibt eine Wissenschaft mit Variablen und Unwägbarkeiten. Die volle Vorhersagbarkeit menschlicher Entscheidungen wird es auch in Zukunft nicht geben. Was es künftig aber mehr braucht, ist umfassende Transparenz auf Seiten der Meinungsforschungsinstitute über ihre Erhebungspraktiken, vor allem aber der kritische Blick von Journalistinnen und Journalisten darauf, wie Umfragen entstanden sind. Auch wenn es bedeutet, dass ein vermeintlicher Zahlencoup das eine oder andere Mal vielleicht doch keiner ist – und damit auch keine Meldung wert.

 

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