Die Geschwister Kyona und Adriel müssen alleine in einer zeit- und namenlosen Welt vor Unterdrückung und Gewalt fliehen. Der Animationsfilm „Die Odyssee“ erzählt ihre Geschichte in auf Glas gemalten Ölbildern. Mit archetypischen Motiven und Figuren entfernt sich die französische Regisseurin Florence Miailhe zusätzlich von der Realität. Trotz des ernsten, aktuellen Themas richtet sie so einen poetischen Blick auf das Schicksal geflüchteter Menschen.
Bei manchen Filmen wünsche ich mir, sie würden nie Aktualität erlangen. „Die Odyssee“ ist so ein Film, obwohl er eindringlich, poetisch und wunderschön ist. Eigentlich wünschen wir uns, dass Menschen und erst recht Kinder nicht fliehen müssen vor Gewalt und Vertreibung. Aber wenn wir ehrlich sind, fliehen nicht nur nach dem russischen Angriffstag jeden Tag Kinder, noch nie waren so viel Menschen auf der Flucht. Mitte 2021 lag nach Schätzung des UNHCR die Zahl der Geflüchteten weltweit bereits bei mehr als 84 Millionen.
„Die Flucht vor Verfolgung, die Suche nach einem weniger feindseligen Land; einer bedrohlichen Situation zu entfliehen oder weniger strengen Gesetzen unterworfen sein zu wollen; sich schließlich dazu verleiten zu lassen, Meere und Kontinente zu überqueren, das ist eine Geschichte, so alt wie die Menschheit“, sagt die Regisseurin, die seit 2006 an dem Stoff arbeitete, drei Jahre dauerte allein die Produktion. Miailhes Familiengeschichte ist mit der Flucht ihrer Urgroßeltern vor antisemitischen Pogromen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aus ihrer Heimat Odessa verknüpft.
Dennoch erzählt Miailhe nicht ihre Familiengeschichte, sondern lässt die Geschwister in einer beinahe mythologischen Realität fliehen mit Archetypen wie der Babayaga und der bösen Stiefmutter. Raum und Zeit verschwimmen, so warten Menschen jeder Hautfarbe auf dem Bahnhof. „Alle haben ihre Gründe“, erklärt die Mutter Kyona über die Fluchtursachen der anderen, kurz bevor sie getrennt werden. Aus dem Nirgendwo des Gesterns katapultiert der Film uns immer wieder ins Heute. Die Soldaten ziehen ihr Mobiltelefon hervor. Oder wenn der Schleuser Kyona und Adriel über einen reißenden Fluss fährt, dann schwimmt neben ihnen ein übervolles Boot wie im Mittelmeer.
Auch das eine Odyssee. Miailhe hat mit „Die Odyssee“ einen großen Titel gewählt und füllt ihn in jeder Minute aus. Kyona und Adriel ist kein geradliniger Weg beschieden, in verschiedenen Episoden reihen sich Begegnungen an Begegnungen. Viele Wegbegleiter*innen bleiben zurück, werden gefangen genommen, sie sterben oder wir wissen nicht, was mit ihnen geschieht. Die erwachsene Kyona erzählt anhand ihres Skizzenbuches, in das sie während der Flucht zeichnete, und damit Bilder und Weggefährt*innen dem Vergessen entrissen hat. „Die Odyssee“ zeigt damit auch, wie wichtig es ist, Zeugnis abzulegen. Und sie zeigt in den verschlungenen Kausalitäten, wie zufällig es ist, wer diese Odyssee überlebt und wer nicht.
Durch die Ölfarben auf Glas entsteht eine farbenreiche Intensität. Bilder verwandeln sich in fließenden Bewegungen in neue Bilder. Aus dem Gesicht der jungen Kyona wird die Landkarte ihrer künftigen Flucht. Über eine Leiche legt sich sanft der Schnee. Am Ende hält der Film keine Erlösung für die Held*innen dieser Odyssee bereit, nur Überleben, und den Wunsch, dass die Welt eine andere wäre, in der niemand fliehen muss.
Der Animationsfilm „Die Odysee“ startet am 28. April in den deutschen Kinos.