Gewalt gegen Frauen ist in Deutschland alltäglich. Und nicht nur in Politik und Justiz besteht großer Nachholbedarf im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt: Auch die journalistische Praxis zeigt deutliche Schwächen und erhebliche Leerstellen. Der aktuelle Trendreport der Otto Brenner Stiftung nimmt die Jahre 2020 bis 2022 in den Blick und stellt fest: Gewalt gegen Frauen wird isoliert dargestellt, ohne strukturelle Ursachen und Präventionsmöglichkeiten zu thematisieren. Das betrifft besonders deutsche Täter. Die Perspektive der Opfer bleibt unterbelichtet.
Im neuen OBS-Trendreport setzt Autorin Christine Meltzer ihre Untersuchung der Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen fort und analysiert die Jahre 2020 bis 2022. Das Ergebnis ist ernüchternd. Eine strukturelle Auseinandersetzung mit der Alltäglichkeit und Vielschichtigkeit von Gewalt gegen Frauen findet in der deutschsprachigen Berichterstattung weiterhin nur sehr selten statt.
Im Vergleich zur ersten Erhebung der Jahre 2015 bis 2019 zeigen sich nur wenige Fortschritte. Auf Basis der kritischen Bestandsaufnahme formuliert der Trendreport Empfehlungen für eine differenzierte Berichterstattung, die Gewalt gegen Frauen als gesamtgesellschaftliches Problem anerkennt und für die Perspektiven der Betroffenen sensibilisiert ist.
Öffentliche Wahrnehmung
Die Berichterstattung prägt die öffentliche Wahrnehmung von geschlechtsspezifischer Gewalt und die gesellschaftliche Dringlichkeit, Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Die mediale Darstellung kann entscheidend sein, wenn es darum geht, den Schutz vor Gewalt gegen Frauen in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken. Medien sind also nicht nur wichtige Informationsquellen. Sie können auch politischen Druck für die Umsetzung konkreter Maßnahmen auszuüben. Das betrifft unter anderem die 2017 von Deutschland ratifizierte Istanbul-Konvention. Zusätzlich kann über Gewaltformen und deren Ausmaß informiert werden. Damit würden Medien zu einer wichtigen Informationsquelle für Betroffene von Gewalt und deren Angehörige.
Fokussierung auf extreme Einzelfälle
Für die Studie wurden 3.172 Artikeln in verschiedenen Medientypen (überregionale und regionale Tageszeitungen, Boulevardmedien, Spiegel Online und dpa) hinsichtlich der Darstellung von Tat, Tätern und Opfern sowie der Verwendung von Begriffen wie „Familiendrama“ oder „Femizid“ analysiert. Zudem wurde erfasst, ob die Tat strukturell eingeordnet wurde, ob Bezüge zu anderen Taten hergestellt und ob Hilfsangebote erwähnt wurden. Dabei fiel auf, dass es eine starke Fokussierung auf extrem gewaltvolle Einzelfälle gibt und überdies sexualisierte Gewalt vor allem dann thematisiert wird, wenn sie tödlich endet.
Dies betrifft auch die Berichterstattung über Paarbeziehungen. Frühere Gewaltformen wie psychische und finanzielle Kontrolle, die den extremen Übergriffen vorausgehen, werden kaum thematisiert. Es wird der Eindruck vermittelt, die Taten geschehen „aus heiterem Himmel“. Das heißt, die alltägliche Gewalt und das tatsächliche Ausmaß des Problems bleiben weitgehend unberücksichtigt.
„Einige wenige Tendenzen weisen in die richtige Richtung, insgesamt hat sich im Vergleich zur Vorgängerstudie jedoch nur wenig geändert. Und das ist ein Problem“, stellt Christine Meltzer fest. „Eine Berichterstattung, die die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen von Gewalt gegen Frauen klar benennt, könnte ein entscheidender Beitrag zur Prävention und Veränderung sein“, ist sich Meltzer sicher. Notwendig sind aus Sicht von Autorin und Stiftung mehr strukturelle Einordnung, ein sensiblerer Umgang mit Sprache und Herkunftsnennungen, eine verbesserte Bereitstellung von Informationen für Hilfesuchende sowie mehr Raum für die Perspektiven der Opfer und den Opferschutz.
„Der Deutsche Presserat sowie die Gremien der Öffentlich-Rechtlichen sind weiter in der Bringschuld. Sie sollten endlich Selbstregulierungsrichtlinien für eine würdige und sensible Berichterstattung verabschieden“, fordert der Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung Jupp Legrand angesichts der Befunde. Obwohl inzwischen zahlreiche Leitfäden für die Berichterstattung vorliegen, finden sie kaum Beachtung in der medialen Praxis.