Die Lage für unabhängige Medien und Berichterstatter*innen hat sich in Venezuela nach der Wahl noch einmal verschärft. Der seit 2013 regierende Nicolás Maduro hat sich erneut zum Sieger erklärt, die Opposition und viele Länder glauben weder an eine faire Wahl am 28. Juli noch an den proklamierten Ausgang. Über die Lage der Medien, die Entwicklung der Pressefreiheit seit der Machtübernahme von Hugo Chávez und die Verantwortung der Journalist*innen spricht der venezolanische Medienwissenschaftler Andrés Cañizález mit M.
Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Venezuela wird von vielen Staaten und großen Teilen der Bevölkerung nicht anerkannt. Die Regierung von Nicolás Maduro reagiert mit einer Repressionswelle. Sind davon auch nationale und internationale Berichterstatter*innen betroffen?
Ich weiß von fünf Verhaftungen von venezolanischen Journalist*innen derzeit. Allerdings geht die Regierung von Nicoás Maduro auch gegen ausländische Berichterstatter*innen vor. Mehrere wurden zur Ausreise gezwungen.
Unabhängige Berichterstattung ist essenziell in dieser Situation, die Bevölkerung hat formell das Recht sich zu informieren. Aber das scheint ausgesprochen schwer in Venezuela. Wie beurteilen Sie die Lage?
Der Zugang zu Informationen von unabhängiger Seite ist ein Grundrecht, das systematisch in Venezuela unterlaufen wird. Dazu tragen nicht nur die Verhaftungen bei, die wir derzeit erleben. Es sind auch die Schwierigkeiten der Journalist*innen, an Informationen von Seiten der staatlichen Institutionen zu kommen. Schon vor den Wahlen war das äußerst restriktiv. Das hat sich seit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses massiv verschärft.
Sie haben kurz vor den Wahlen in einer Diskussionsrunde mit Journalist*innen der Tageszeitung „Tal Cual“, von „Efecto Cocuyo“ und vom Radiosender Fé y Alegria über die extremen Schwierigkeiten diskutiert, in Venezuela an offizielle Informationen zu kommen. Warum ist das so?
Die Regierung unterhält eine Propagandamaschine. An der Verbreitung differenzierter Informationen hat sie wenig Interesse. Das ist eine Realität, die uns Journalist*innen die Arbeit erschwert. Daher gibt es eine Reihe von Initiativen, die Fakten checken und Lügen und Fehlinformationen aufzudecken versuchen.
Das scheint unerwünscht. Anders ist die Blockade von Seiten wie des „Observatorio venezolano de Fake News“ kaum zu verstehen?
Ein Charakteristikum der derzeitigen Regierung in Venezuela ist die Verbreitung von Fehlinformationen – oft zum Vorteil der Regierung. Das ist aus meiner Perspektive ein Grund, weshalb mehrere Seiten, die Fake News aufdecken, im Wahlkampf blockiert wurden. Darunter auch die Redaktion vom „Observatorio“, wo ich mitgearbeitet habe. Die Seite ist seit dem 12. Juli blockiert . Nicht anders geht es Seiten wie „EsPaja“ oder „Cazadores de Fake News“, die ebenfalls blockiert wurden. Ich vermute eindeutige Motive der staatlichen Institutionen.
Wie beurteilen Sie die Bilanz der Bolivarianischen Revolution aus medialer Perspektive – wie steht es um freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit nach 22 Jahren?
Andrés Cañizález (58)
ist Publizist, Medien- und Politikwissenschaftler und assoziierter Forscher der Universidad Católica Andrés Bello in Venezuela. Er lebt in Barquisimeto, rund 350 Kilometer von Caracas entfernt, befindet sich aber seit einigen Tagen in Argentinien. Dort hat er einen Lehrauftrag in Buenos Aires bis November.
Welche Risiken drohen den Berichterstatter*innen?
Die Regierung verletzt mit ihrem Machtapparat das Recht auf Information und freie Meinungsäußerung zum Beispiel durch dieSchließung von Redaktionen, der Entzug von Radiolizenzen. Das hat es in den letzten Monaten mehrfach gegeben. So musste das Lokalradio Minuto 103.9 FM im Mai schließen. Und es gibt weiter Fälle. (Allein im Jahr 2022 sollen 69 Radiostationen laut Informationen der Nichtregierungsorganisation Espacio Público geschlossen worden sein – Ergänzung der Redaktion). Hinzu kommen die erwähnte Sperrung des Zugangs zu Webseiten kritischer Medien und Organisationen sowie Angriffe auf Journalist*innen. Das haben internationale Organisationen, darunter Reporter ohne Grenzen, in den letzten Tagen kritisiert.
Sehen Sie ein Ausweg aus dieser prekären Situation?
Ich will nicht spekulieren. Wir brauchen für die Medien auf alle Fälle einen Neuanfang in Venezuela. Aber ich weiß nicht, ob es diesen Neuanfang in absehbarer Zeit geben wird.
Sie arbeiten an der katholischen Universität Andrés Bello als Dozent für soziale Kommunikation. Wie ist das Klima an den Universitäten – unterscheidet es sich von dem in Redaktionen?
Definitiv. In der Lehre gibt es deutlich mehr Freiräume als in den Redaktionen. Vor allem Radio und Fernsehen stehen im Fokus der staatlichen Akteure, bei digitalen Medien ist der Druck nach meinen Informationen weniger ausgeprägt.
Kann Oppositionskandidat Edmundo González Urrutia aus Ihrer Sicht das Land einen und es versöhnen? Und welche Rolle spielen in diesem Kontext die Medien?
Ich denke, dass Edmundo González Urrutia und María Corina Machado, die hinter ihm steht und deutlich populärer ist, ein glaubwürdiges Gespann sind. Sie könnten einen Übergang in Venezuela einleiten. González Urrutia setzt in seinem Diskurs auf versöhnliche Töne, auf den Wiederaufbau des Landes, auf den viele Menschen hoffen. Dabei sind seine Erfahrung als Diplomat und seine ausgleichende Art von Vorteil. Frau Machado ist diejenige, die die Massen mobilisiert.
Und die Medien?
Auf die kommt eine wichtige Aufgabe zu. Denn sie können dazu beitragen, ein Klima der Versöhnung zu erzeugen und die Glaubwürdigkeit der Institutionen wiederherzustellen. Das ist ein langer Weg, aber die Medien haben da eine zentrale Aufgabe. Elementar ist allerdings auch die Rolle der Militärs. Allerdings müsste es sich reformieren und unparteiisch agieren.