Wahlberichterstattung auf dem Prüfstand

Stift und ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel

Bild: Pixabay

Im Superwahljahr 2024 stehen demokratische Systeme durch das Erstarken rechter Parteien, die sie von innen aushöhlen wollen, weltweit unter Druck. Wie da eine verantwortungsvolle Wahlberichterstattung aussehen könnte, diskutieren Medienexpert*innen aus den USA und Deutschland. Sie hinterfragen journalistische Standards und fordern einen repräsentativeren und menschenrechtsbasierten Journalismus.

Während der Podiumsdiskussion, zu der Heinrch-Böll-Stiftung HBS und Neue deutsche Medienmacher*innen NdM nach Berlin eingeladen hatten, stellte Jay Rosen, Journalismusprofessor an der New York University, das journalistische Neutralitätsgebot in Frage. Angesichts der politischen Asymetrie seit der Trump-Wahl 2016 müsse die Presse in den USA umdenken. Die Demokraten seien weiterhin eine „normale Partei“, aber die Republikaner hätten sich zu einer Bewegung entwickelt, die versuche, die demokratischen Institutionen zu unterminieren. “Ich kritisiere unsere Presse, weil sie sich nicht auf diese Veränderungen eingestellt und neue Standards entwickelt hat“, so Rosen.

Auch Errin Haines, Chefredakteurin des Nachrichtenmagazins The 19th*News, kritisierte, dass die Wahlkampfberichterstattung trotz der Erfahrungen mit Trump abermals nach alten Mustern verlaufe: “Wer liegt vorn?“ Dabei gehe es „doch um die Frage, ob die Demokratie erhalten bleibt! Aber so wird nicht diskutiert. Es wird nicht reflektiert, dass Trump durch seine Nominierungen für den Supreme Court erreicht hat, das landesweite Recht auf Abtreibung wieder abzuschaffen und damit die Errungenschaft einer ganzen Generation verloren gegangen ist.“

Im Gegensatz zur US-amerikanischen Presse sei es für deutsche Journalist*innen aufgrund historischer Erfahrungen „selbstverständlich, die Demokratie nicht wieder Rechtsextremen zu überlassen“, so Rosen, der 2018 für sein Projekt PressThink zum deutschen „Pressedenken“ forschte. Für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bestätigte Shakuntala Banerjee, designierte Leiterin der der ZDF-Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen, dass sie dazu verpflichtet seien. Seitdem mit der AfD eine anti-demokratische Partei im Bundestag sitze, sei es „unglaublich schwierig, in einer nicht verzerrten Weise über ihre Ziele zu berichten und zu zeigen, was dahinter steckt“.

Menschenrechtsbasierter Journalismus

Hadija Haruna-Oelker, Journalistin, Autorin und NdM-Mitbegründerin, erinnerte daran, dass viele Medien die Gefährlichkeit der AfD lange unterschätzten und „nun müssen wir die Demokratie verteidigen. Wir haben ein Publikum, das eine multikulturelle Gesellschaft ist, das sich in den Medien nicht repräsentiert fühlt“. Eine repräsentativere Berichterstattung könne man erreichen, indem man Debatten so rahmt, dass sie rückgebunden werden an die Menschenrechte. Als Beispiel nannte sie ein Interview mit dem Faschisten Björn Höcke, in dem dieser sagte, er sei gegen Inklusion. Der Moderator habe leider nicht darauf hingewiesen, dass Inklusion ein Menschenrecht ist. Es gehe um den demokratischen Kontext und Factchecking.

Interviews mit Extremisten wie Höcke oder Trump hielten alle für schwierig und riskant, weil Lügen, Desinformationen umgehend entlarvt werden müssten und ein Factchecking am nächsten Tag im Internet zu spät komme. ZDF-Journalistin Banerjee gab zu bedenken, auch bei einem Live-Factchecking könne man jemanden, „der populistische Argumente vorbringt – und das ist nicht nur die AfD – nicht stoppen. Sie greifen Teile des Interviews heraus und spinnen sie in ihrem Sinne weiter“.

Rechte Strategien kontern

Für das Publikum sei es da schwer, Fakten von Faschinformationen zu unterscheiden – besonders im Internet, wo Rechtsextremist*innen sehr aktiv sind. Bei den Europawahlen bekam die AfD auch aufgrund ihrer TikTok-Aktivitäten viele Stimmen junger Wähler*innen. US-Journalismusprofessor Rosen zeigte sich pessimistisch. „Wir leben in einem goldenen Zeitalter der Propagnda, der russische Einfluss ist stark. Wir werden geflutet mit zweifelhaften, verrückten Informationen und einigen Wahrheiten, um Menschen zu überfordern, die keine Zeit zum Überprüfen und Erkennen von Zusammenhängen haben.“ Er zitierte den ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon: „Die wirkliche Opposition sind nicht die Demokraten, sondern die Medien. Die müssen wir mit Scheiße füllen.“ Das Ziel einer solchen Medienstrategie sei nicht Manipulation, sondern die Menschen sollten aus dem öffentlichen Diskurs herausgehalten und überzeugt werden, dass es unmöglich sei, sich zu informieren. Diese  Strategie – Überflutung, um Factchecking zu verhindern – erfordere neue Tools, „aber wir wissen nicht, welche“.

Banerjee ergänzte, dabei gehe es auch um Vertrauen: „Wir sind so damit beschäftigt, die ganze Scheiße zu überprüfen. Es gibt so viel davon und die Menschen wenden sich von Informationen ab, sind überwältigt von der Menge. Wenn wir das ignorieren, verlieren wir weiter Vertrauen. Dabei suchen die Menschen doch nach glaubwürdigen Informationen!“

Journalistische Standards greifen nicht immer

Doch wenn eine gemeinsame Faktenbasis fehle, gerate die Glaubwürdigkeit von Medienschaffenden ins Wanken. Gängige journalistische Standards wie neutral zu bleiben und über alle Sichtweisen zu berichten, setzten voraus, dass wir über das gleiche Objekt sprechen, so Rosen. Trump habe mit diesen Gewissheiten gebrochen. Während 2020 die Medien Biden als Gewinner betrachteten, weigerte Trump sich, das zu akzeptieren. Journalist*innen wurden zu „Agent*innen der Realität“, als sie die Reden von einer “gestohlenen Wahl“ als faktisch unwahr zurückwiesen.

Die Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Fakten sei extrem wichtig: Das sind Basics, die man in der Journalismusschule lerne, betonte Rosen: “Nun hat Trump das alles seltsam verzerrt, indem er versucht, offenkundliche Fakten zu verleugnen – zum Beispiel, dass Barack Obama amerikanischer Staatsbürger ist. Dabei ist das eindeutig bewiesen, es gibt öffentlich einsehbare Dokumente. Doch Trump verleugnete das und die Leute wurden wütend. Das stärkte ihn und brachte ihn auf die politische Bühne. Und wir wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen.“

Mit Multiperspektivität gegen die Unterrepräsentation der Mehrheit

Auch Errin Haines meinte, es sei diese Lüge gewesen, die Trump in die Politik brachte und fragte: „Warum wurde das nicht aufgearbeitet?“ Sie erklärte das mit mangelnder Diversität in Politik und Journalismus: „Es ist rassistisch von Trump gewesen, zu behaupten, Obama sei kein amerikanischer Bürger. Diese Lüge, hallte nach und verfing bei vielen Menschen. Trump sah seine Chance mit dem Slogan „Make America great again“. Der Journalismus spiegelt die Verhältnisse in unserem Land wider, die Unterrepräsentation einer Mehrheit. Der politische Journalismus ist viel zu weiß und zu männlich.“

Wenig Diversität in den Medien

Hadija Haruna-Oelker machte für das Erstarken des Rechtsextremismus in Deutschland auch eine mangelnde Diversität in den Medien verantwortlich. Gerade in Wahlzeiten sei es wichtig, eine multikulturelle Perspektive einzunehmen. Es sei schön, wenn journalistische Institutionen diverser wären. Sie müssten aber mindestens eine Idee von den Problemen der Menschen draußen haben.

Viele fühlten sich in den Medienbildern nicht repräsentiert und wanderten dann ab zu den „sozialen Medien“. Es gebe eine große marginalisierte Gruppe mit Migrationsgeschichte, die AfD wählt. Wie kann das sein, fragte sie und schlussfolgerte: „Es ist unsere demokratische Verantwortung, für das Publikum da zu sein, die Themen auf der Straße zu sehen und nicht nur über Rechtsextreme zu sprechen, die bekommen zu viel Aufmerksamkeit. Wir müssen Themen wie Migration oder Gender mit Menschenrechten verbinden, das ist unsere demokratische Verantwortung.


Aus dem Austausch sind konkrete Hinweise entstanden, wie Wahlberichterstattung gelingen kann:

Neue Fragen stellen:

Statt immer nur zu berichten, wer in Umfragen vorne liegt oder welche*r Politiker*in welche Forderung stellt, wie wäre es mal mit Fragen wie: Was steht auf dem Spiel? Für wen? Welche Bevölkerungsgruppe wird in der Politik nicht repräsentiert? Und vor allem: Was will die Wählerschaft hören und besprechen?

Kontext setzen: 

„Vermeldungsjournalismus“, der lediglich politische Forderungen reproduziert, ist PR und hat keinen journalistischen Mehrwert. Journalismus muss beantworten: Was heißt eine politische Forderung konkret? Ist sie juristisch haltbar? Welche Auswirkungen hat sie auf die Bevölkerung? Und was bedeutet sie für die Demokratie?

Fakten verteidigen: 

Wenn Fakten verdreht werden, ist es schwer, sie wieder gerade zu biegen. Live-Interviews mit Interviewpartner*innen, die Lügen und Desinformationen verbreiten, brauchen einen exzellenten Live-Faktencheck. Wer den nicht liefern kann, sollte das Live-Interview lieber lassen. Nimmt der Einfluss von Fehl- und Desinformationen zu, wird der öffentliche Diskurs zunehmend geleitet von emotionaler Rhetorik. Folgt das öffentliche Meinungsbild dem Grundsatz „ich glaube, also habe ich recht”, dringt faktenbasierter Journalismus nicht mehr durch.

Dinge beim Namen nennen: 

Lügen sind Lügen und Rassismus ist Rassismus. Objektiv zu berichten, heißt nicht, menschenfeindliche Aussagen stehen zu lassen oder zu reproduzieren, sondern Menschenfeindlichkeit als solche zu benennen. Rechtsextremes Framing und Wording gehört grundsätzlich in keine Überschrift oder Sendung. Vor allem nicht ohne die entsprechende Einordnung.

Vorsicht vor der „Migrations-Falle“:

Journalist*innen sollten sich von rechtspopulistischem Agenda-Setting nicht zu sehr ablenken lassen. Denn wenn jedes Thema „migrantisiert“ wird, gibt es keine Themen mehr außer Migration. Und die Partei, die das Thema am radikalsten vertritt, gewinnt nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern oft auch die Wahlen.

Vertrauen aufbauen statt Clickbaiting betreiben: 

Populismus und Mediendynamiken passen gut zusammen. Denn Populismus sorgt für Empörung und Empörung für Klicks. Zu einer langfristigen Bindung von Medienrezipient*innen an Medienhäuser führt das jedoch nicht. Viel eher führt Clickbaiting-Journalismus, der sich in der Themensetzung von Rechtspopulismus verleiten lässt, langfristig zu mehr Misstrauen gegenüber den Medien selbst. Denn auch sie sind ein Feindbild derjenigen, die spalten – auch das zeigt der Blick in die USA.

Für die eigene Zielgruppe da sein:

Ihre Fragen an Politiker*innen stellen und ihre Geschichten in den Fokus setzen: Das muss Aufgabe von Journalismus sein. Bislang bekommen noch immer die Politiker*innen die meiste mediale Aufmerksamkeit, die am lautesten agitieren. Es fehlt im Journalismus noch immer an kritischem Umgang mit Rechtspopulismus und -radikalismus. Und an den Geschichten derjenigen, die davon besonders betroffen sind. Spätestens seit der EU-Wahl fragen wir uns: Wo bleiben die Perspektiven der marginalisierten Gruppen, die gerade besonders bedroht sind? Demokratischer Journalismus berichtet für alle Teile der Bevölkerung. Und nicht gegen sie.

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