Anatomisch nicht möglich

Screenshot Zig & Sharko (S02E07)

Im Vorschulalter lernen Kinder, dass Zeichentrickwelten in Wirklichkeit nicht existieren. Das heißt aber nicht, dass die Bilder wirkungslos bleiben: Wenn sich Kinder mit einer Figur identifizieren, spielt es keine Rolle, ob sie gezeichnet oder real ist. Weil Trickserien also großen Einfluss auf die kindliche Identitätsentwicklung haben können, üben Wissenschaftler_innen harsche Kritik an der „hypersexualisierten“ Gestaltung vieler weiblicher Figuren.

Im Rahmen einer Studie der Universität Rostock sind 327 Zeichentrickprotagonisten der Kindersender Kika, Super RTL, Disney Channel und Nickelodeon untersucht worden. Über 50 Prozent der weiblichen Figuren hätten dank „Wespentaillen und Sanduhrfiguren“ Körpermaße, die „nicht länger im anatomisch möglichen Bereich liegen.“ Figuren mit Übergewicht gebe es gar nicht. Jungs und Männer würden dagegen deutlich realistischer dargestellt: nur ganz selten mit „V“-Konturen (schmale Taille, übertrieben breites Kreuz), dafür öfter mal korpulent.

Basis für die Messungen bei den weiblichen Figuren war der sogenannte Taille-Hüfte-Quotient, kurz WHR (waist to hip ratio); dabei wird der Umfang der Hüfte durch den Umfang der Taille geteilt. Am attraktivsten gilt bei Erwachsenen im Allgemeinen ein WHR von 0,7; anatomisch „normal“ ist 0,8. Kinder haben in der Regel einen Wert von 1. Nach der Pubertät kann der weibliche Körper maximal einen WHR von 0,68 erreichen. „Verzerrte und damit unnatürliche Körperbilder“, heißt es in der Studie, „liegen vor, wenn weibliche Figuren nach der Pubertät den Wert 0,68 unterschreiten.“ Im deutschen Kinderfernsehen liege jedoch über die Hälfte der Protagonistinnen deutlich unter diesem Wert. Die Meerjungfrau Marina aus der Super-RTL-Serie „Zig & Sharko“ weist mit 0,2 den niedrigsten aller gemessenen Werte auf. Nur 20 Prozent der Figuren hätten einen Wert, der dem von echten Kindern entspreche; über 1 liegt keine einzige. Wem das zu abstrakt ist, muss sich nur die Metamorphose der wohl populärsten deutschen Zeichentrickfigur anschauen: Als die Biene Maja 1976 erstmals über die Bildschirme flog, war sie ein rundlicher Brummer mit Pausbacken. Knapp vierzig Jahre später gab es eine neue Version, diesmal am Computer entstanden; und die ist sichtbar schlanker.

Nun könnte man einwenden: Ist doch alles nur Fantasie. So sagt zum Beispiel Super-RTL-Geschäftsführer Claude Schmit über Meerjungfrau Marina, sie sei als „Kunstfigur überzeichnet, was auf sämtliche Figuren der Serie zutrifft. Ihre ausgeprägte Weiblichkeit ist inhaltlich entscheidend, denn sie tritt als starker und gewitzter Charakter in Erscheinung.“ Maya Götz lässt das jedoch nicht gelten. Die Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI, München) erläutert, welche Folgen es haben kann, wenn Mädchen mit dem Bild unerreichbar schlanker Körper aufwachsen: „Sie verinnerlichen dieses Bild und gehen zunächst davon aus, sie würden bald so aussehen. Spätestens mit Beginn der Pubertät sind damit eine Beschämung und ein Verlust des Selbstwertes verbunden, was bis in die Identitätskrise führen kann.“

Götz wollte wissen, was die Zielgruppe von den hypersexualisierten Darstellungen hält, und hat 842 Kindern verschiedene Versionen der Titelfigur aus „Mia and me“ vorgelegt. Die Heldin dieser Serie (ZDF/Kika) kann mithilfe eines magischen Armreifs aus der Realität in die Elfenwelt von Centopia wechseln; die Abenteuer, die sie dort erlebt, sind gezeichnet. Die „echte“ Mia ist eine schlanke junge Frau mit einem WHR von 0,8; als animierte Elfe im sexy Minikleid liegt ihr Wert bei 0,53. Diese Version gefiel den befragten Kindern jedoch am wenigsten; gerade die Mädchen bevorzugten eine gezeichnete Mia mit deutlich breiterer Taille. In einer zweiten Untersuchung hat Götz die Kinder gefragt, was sie an den Protagonistinnen aus den Trickserien am meisten stört. Das Ergebnis war unmissverständlich: Jungs finden es doof, dass die weiblichen Figuren viel zu oft „tussige Prinzessinnen“ sind, die immer gerettet werden müssen; die Mädchen ärgern sich darüber, dass die Zeichentrickheldinnen stets viel zu dünn sind und männliche Figuren immer die Hauptrolle spielen. Tatsächlich hat eine weitere Untersuchung der Uni Rostock ergeben, dass 77 Prozent der Hauptfiguren männlichen Geschlechts sind. Hat eine Gruppe einen Anführer, ist der fast immer ein Junge oder ein Mann. Diese Rollenverteilung, sagt Götz, bleibe selbstverständlich ebenfalls nicht folgenlos.

Die Verantwortlichen von „Mia and me“ wollen zumindest die Kritik an ihrer Serie relativieren. Laut Produzent Gerhard Hahn habe man sich bei der Auswahl der echten Mia-Darstellerin, „mit der sich die jungen Zuschauerinnen ja vorrangig identifizieren“, bewusst für junge Frauen mit ganz normaler Figur entschieden. Für die Kunstfigur der Elfe habe es verschiedene Entwürfe mit unterschiedlichen Körperformen gegeben, die dann bei Jungen und Mädchen getestet worden seien. Die Kinder hätten sich „eindeutig für die zierliche Elfe“ entschieden: „möglicherweise, weil in tradierten Illustrationen Elfen immer zierlich und schlank dargestellt werden.“ Beim ZDF, versichert Irene Wellershoff, Leiterin der Abteilung Fiktion im Kinderfernsehen, sei man ebenfalls überzeugt, „dass Charakterzeichnung und Handlungskompetenz prägender für die Identifikation mit Mia sind als das Design“, zumal die Serie keinerlei Anspruch erhebe, „Abbildung der Wirklichkeit zu sein“.

 

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