Bei digitalen Innovationen dominieren ökonomische Interessen, doch diese sind „Ursprung vieler ethischer Probleme“. So ein Tenor der Tagung „Kommunikations- und Medienethik reloaded“ Ende Februar in Köln, bei der es um Orientierungen in der digitalen Medienwelt ging. Moralkonflikte im Zusammenhang mit Digitalisierung müssten gesellschaftlich ausgehandelt und Handlungsempfehlungen gegeben werden für „eine funktionierende und aufgeklärte digitale Mediengesellschaft“, so einige Befunde.
„Wir wollen weiterbauen an der Theorie-Praxis-Brücke“, begrüßte Journalistikprofessorin Marlis Prinzing die Teilnehmenden zu dem facettenreichen Tagungsprogramm. In seinem mit Bildimpressionen unterlegten Vortrag führte der Amsterdamer Medienwissenschaftler Geert Lovink in die „Programmierte Traurigkeit“ der digitalen Gesellschaft ein. Die Omnipräsenz des Smartphones zwinge Nutzer*innen, sich „zur Schau zu stellen, zu verkaufen“, zur Selbstoptimierung, denn im sozialen Peer-to Peer-Ranking“ werde der Status durch die Zahl der Follower bestimmt. Das führe zu verschiedenen Formen von Traurigkeit und Erschöpfung von der Online-Welt, die aber auch Chancen der Reflexion über Alternativen berge.
Strukturen jenseits von Community-Hijackern und Internet-Giganten
Für solche Alternativen sei eine andere Infrastruktur notwendig, sagte der Schweizer Medienberater Hansi Voigt. Das bestehende „Zeitungsverlegersystem in seiner Pseudo-Digitalisierung“ und „Community-Hijacker wie Facebook und Co“ seien „Silos“, die Informationen zur „Massenware“ machten, während Aufmerksamkeit „ein rares Gut“ sei. Es gelte nun, eine neue dezentrale Infrastruktur für die Verbreitung von Inhalten aufzubauen, die „eine glaubwürdige Debatte für unsere Gesellschaft“ ermöglicht und sich „in den Dienst der Leser stellt“. Als Beispiel nannte er den Schweizer „Verband Medien mit Zukunft“ , in dem kleinere publizistische Marken zusammengeschlossen sind.
Dass viele ethische Probleme aus den ökonomische Strukturen hervorgehen, zeigte sich auch beim Thema „Digitale Souveränität“, die der Erlanger Medienethikprofessor Christian Schicha als „Selbstbestimmung hinsichtlich des Wirtschaftsguts Daten“ definierte. Zu den Digital Souveränen zählten nach seiner Aussage 15 Prozent der deutschen Bevölkerung, die „Datensicherheitslücken als Teil des Kommunikationsprozesses“ akzeptierten. Gleichwohl werde von Politiker*innen mehr digitale Souveränität gefordert, um das durch Ausspähen von Nutzerdaten verlorene Vertrauen in die Netzwerkgesellschaft zurückzugewinnen. Drei Informatiker haben in ihren Thesen zur Digitalen Souveränität Europas elf Wünsche geäußert, u.a.: “Wir müssen unsere Gesetze und Wertvorstellungen gegenüber Internet-Giganten durchsetzen können.“
Wie eine Nutzung des Internets jenseits von Profitinteressen aussieht, zeigte die Berliner Kommunikationswissenschaftlerin Saskia Sell am Beispiel von „digitaler Zeugenschaft“. Wenn Selbst- und Opferzeugnisse, die zunächst im Netz kursieren, von Medien aufgegriffen werden, könnten sie zur politischen Partizipation beitragen. So wurden Posts und Selfies von Frauen, die häusliche Gewalt erlitten, 2017 etwa in britischen Print- und Onlinepublikationen veröffentlicht. Vernetztes Handeln gegen sexualisierte Gewalt wurde durch #metoo mit Zeugnissen Betroffener ermöglicht. Sells Fazit: Kommunikator*innen, die Vertrauen genießen, können Wissenslücken schließen, eventuell Aggressionsspiralen brechen und denen im Netz eine Stimme geben, die sonst keine hätten. Journalist*innen sollten deshalb ihren Umgang mit social media weiterentwickeln.
Mehr Beachtung für störende Kommentator*innen und User-Pflege
Für Menschen sei es die „größte Kränkung, nicht beachtet zu werden“, so der Publizist Rainer Erlinger, der bis 2018 allwöchentlich in der Süddeutschen Zeitung eine „Gewissensfrage“ aus der Leserschaft beantwortete. Selbst „unflätige Texte im Netz sind wohl der Versuch, gehört zu werden“, meinte Erlinger und berichtete von einem Leserbriefschreiber, dessen beleidigenden Tonfall er in seiner Antwort spiegelte: „Leser! Das ist der dümmste Leserbrief, den ich je erhalten habe…“. Der Mann war erstaunt und erfreut, dass Erlinger reagierte.
Dass beleidigende Kommentare auch eine provokative Strategie sein können, um sich Gehör zu verschaffen, bestätigte Medienforscher Tobias Eberwein, der 2017 mit seinem Team Nutzer*innen interviewte, die regelmäßig störende Kommentare auf deutschen Nachrichtenwebsites posteten. Allerdings hatten sich nur 22 von über 100 identifizierten Trollen befragen lassen. Diese nannten vier weitere Motive für ihr Tun: Wahrheitsfindung und Meinungsbildung, zu der sie beitragen wollten, Aggressionsbewältigung („Frustabbau lieber online als in der realen Welt“) und Unterhaltung, sich „auf Kosten anderer zu amüsieren“. Eberweins Fazit: Es gibt keine typischen Trolle, sie haben unterschiedliche Motive oder biografische Erfahrungen, die ihre Weltsicht prägten. Gemeinsam ist ihnen aber die „Unzufriedenheit mit der Qualität journalistischer Medien“. Seine Empfehlung: die Kommentator*innen „ernst nehmen, denn sie haben etwas zu sagen!“
„Dem Journalisten ist nichts fremder als mit seinem Publikum zu interagieren“, meinte Daniel Fiene augenzwinkernd. Er leitet das Audience-Engagement-Team der Rheinischen Post/RP Online in Düsseldorf, das den Kontakt zur Leserschaft pflegt. Um die Kommunikation zwischen Redaktion und Usern mittels Algorithmen zu vereinheitlichen, habe die Zeitung mit Unterstützung der Google News-Initiative ein „Listening Center“ aufgebaut. „Als Journalist sollte man Facebook nutzen, um mitzubekommen, worüber das Publikum spricht“, sagte Fiene. So könne man auch Hasskommentaren begegnen – etwa, indem man erklärt, „dass nach Beleidigungen im Netz vielleicht bald die Polizei vor der Tür steht“.
„Die Kommentarbereiche wirken wie ein Schlachtfeld“, sagte der Düsseldorfer Online-Professor Marc Ziegele, der in einem Projekt an „automatisierten Moderationslösungen“ arbeitet. Redaktionen seien zunehmend überfordert, Normen für die Kommunikationskultur einzufordern. In Kooperation mit #Ichbinhier, einer von vielen Initiativen, die sich für ein besseres Diskursklima einsetzen, wurde ein „Bystander“-Modell entwickelt, das Notfall-Reaktionen in die Netzkommunikation überträgt. Das heißt: wenn Menschen meinen, dass sie helfen können und müssen, dann engagieren sie sich auch gegen Hasskommentare.
Gesellschaftliche Verantwortung – beim Wort nehmen!
Journalistik-Professor Klaus-Dieter Altmeppen forderte weniger abstrakte und stärker auf gesellschaftliche Schlüsselthemen ausgerichtete Forschung: „Wir müssen schauen, was interessiert die Gesellschaft und dann Aussagen von Relevanz machen, um gehört zu werden!“
Medienethiker Alexander Filipović berichtete von seiner Arbeit in der Bundestagskommission zur Künstlichen Intelligenz (KI): „Alles, was man macht, ist sofort politisch und wird entsprechend vereinnahmt.“ Er bedauerte das verkürzte Ethikverständnis in der öffentlichen Debatte. Es gehe weniger um anspruchsvolle Reflexion von Moral, sondern vielmehr darum, die Sorgen der Bürger*innen aufzugreifen und zu sagen, was richtig und gut ist. Man müsse „die Rolle mutig annehmen“, um im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess Gehör zu finden.
Ethik sei mittlerweile „verbindendes Element zwischen den Wissenschaftsdisziplinen“, konstatierte der Politologe Christoph Bieber, der die Gründung eines Landesinstituts für Digitalisierungsforschung vorbereitet, das die Hochschulaktivitäten in Nordrhein-Westfalen koordinieren soll. Da KI zumeist in Naturwissenschaft und Technik verortet sei, verstehe er sich „als Lobbyist für Geisteswissenschaften“, denn Moralkonflikte im Zusammenhang mit Digitalisierung müssten gesellschaftlich ausgehandelt werden.
Zum Abschluss der Tagung stellte Marlis Prinzing die von ihr mit initiierte Charta „Öffentliche Kommunikationswissenschaft“ vor und appellierte an Forscher*innen, sich als Expert*in für Medien und Kommunikation in öffentlichen Diskursen zu Wort zu melden und auch Handlungsempfehlungen zu geben – für „eine funktionierende und aufgeklärte digitale Mediengesellschaft“.