Die britischen Eliten in der Medienblase

Jon Snow ist ein Veteran des britischen Nachrichtenfernsehens. Seit Jahrzehnten ist er das Gesicht von „Channel 4 News“. In dieser Funktion hat er zahlreiche Krisenherde bereist, viele Konflikte gesehen. Doch kein Ereignis habe ihn so nachhaltig verstört wie das verheerende Feuer im Londoner „Grenfell Tower“ am 14. Juni, sagte Snow bei einer Rede in Edinburgh. Der Brand habe ihn zum Nachdenken über die Rolle der Medien im heutigen Großbritannien veranlasst.

„In einem zunehmend gespaltenen Großbritannien fühlen wir uns mit der Elite komfortabel, während wir nur wenig Bewusstsein über oder Kontakt und Verbindung mit jenen haben, die nicht zur Elite gehören“, so Snow. Grenfell habe dies drastisch verdeutlicht. „Als Journalisten an jenem schrecklichen Tag aufwachten und ‚Grenfell Tower‘ googelten, fanden sie einen acht Monate zurückliegenden Blogeintrag.“ Dieser habe die gravierenden Sicherheitsmängel im Wohnturm aufgelistet und vor einer tödlichen Katastrophe gewarnt. „Eine Chronik des Todes, vorausgesagt nicht von einem Journalisten, sondern in einem Blog, geschrieben vom Führer der Bürgerinitiative im Grenfell Tower für jene, die dort wohnen.“ Warum habe keine Zeitung das vor dem Feuer aufgegriffen? „Die Geschichte war da, online publiziert, schockierend in ihrer Akkuratheit.“

Die Fragen, die Snow in seiner Rede aufgeworfen hat, sind Teil einer Debatte, die spätestens seit den britischen Parlamentswahlen im vergangenen Mai in der Medienszene auf der Insel tobt. Ein Konflikt ist entstanden zwischen den Journalisten in den „etablierten“ Medien – mit der BBC als Flaggschiff – und den „new kids on the block“.

Bei den „new kids on the blog“ geht es um Internetpublikationen, die rund um die gravierenden britischen Konflikte der letzten Jahre – das schottische Unabhängigkeitsreferendum, der Brexit, der Aufstieg Jeremy Corbyns und die Erneuerung der Labour Partei – entstanden sind. Diese Blogs behaupten keine Neutralität, sie positionieren sie sich im Gegenteil deutlich und eindeutig. Zu ihnen zählen „Wings over Scotland“, „the Canary“, „Novara Media“ oder „New European“.

Das gefällt nicht allen. Am 27. September meldete sich der führende BBC-Politikkorrespondent Nick Robinson in der Tageszeitung the Guardian zu Wort. Die populärsten auf diesen Webseiten publizierten Angriffe seien gegen die „Mainstream-Medien und insbesondere die BBC“ gerichtet, konstatierte er. Dies geschehe mit einer Selbstsicherheit, „die durch das Leben in einer sozialen Medienblase“ gefüttert werde und ein Bild befeuere, wonach „wir Reporter bestenfalls Feiglinge sind, die dem Diktat der Bosse oder der Regierung folgen, oder schlimmstenfalls voreingenommen und parteiisch“.

Auch viele der Macher der neuen Blogs halten eine Blase für das größte Problem. Für sie ist es aber eine analoge, keine digitale Blase. Ihnen geht es um die Blase, die entsteht, wenn die meisten Journalisten denselben sozialen Hintergrund teilen, auf dieselben Privatschulen gehen und somit die gleiche politische Meinung vertreten. „80 Prozent der Top-Redakteure kommen von teuren Privatschulen. Vergleicht das mit den 88 Prozent der britischen Öffentlichkeit, die auf staatliche Schulen gehen“, sagte Jon Snow, der sich selbst zum Kreis dieser Eliten zählt.

Laut einer Studie der Universität Cardiff aus dem Jahr 2013 kamen Unternehmervertreter bei den 18-Uhr Nachrichten des Sender BBC 1 viel öfter als Gewerkschafter zu Wort. Im Jahr 2012 lag die Rate demnach bei 19 zu 1. Am Tag vor den Parlamentswahlen im Mai füllte die Tageszeitung Daily Mail 13 ihrer Seiten mit Angriffen auf den Labour-Parteichef Jeremy Corbyn. Die Daily Mail ist nicht irgendein Blatt. Sie zählt zu den auflagenstärksten Tageszeitungen Großbritanniens.

Hier sei eine Lücke entstanden, meint Guardian-Kolumnist Owen Jones am 9. Oktober: „Vier von zehn Wählern haben bei den diesjährigen Wahlen für eine Labour Partei mit einem entschieden sozialistischen Programm gestimmt. Es ist eine Schande, dass die von diesem Programm vertretenen Ideen in der britischen Presse nur eine Randerscheinung darstellen.“

Manche meinen ohnehin, die Journalisten der „traditionellen“ Medienhäuser seien im Wesentlichen beleidigt. Ihnen ginge es um die Verteidigung etablierter Pfründe, sagt Aaron Bastani, Gründer der Plattform novaramedia.com. In einem Beitrag für das Huck Magazine am 9. Oktober stellt er das nahe Verhältnis vieler bekannter britischer Journalisten zur Politik dar, etwa am Beispiel des ehemaligen konservativen Finanzministers George Osborne, der heute als Chefredakteur des London Evening Standard fungiert.

„Die Verteidigung des heutigen Zustandes, wie sie von der großen Mehrheit der etablierten Stimmen in den Mainstream-Medien betrieben wird, ist immer ideologisch“, so Bastianis These. „Die wachsende Zahl von Stimmen aus dem Mainstream, die nun die neuen Medien sowohl in Form als auch Inhalt attackieren, tut dies aus einem Grund. Sie haben endlich verstanden, was gerade passiert: Eine Revolution, die nicht nur an der Wahlurne stattfindet.“

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