Dem Journalismus geht es sprichwörtlich an den Kragen. Der Journalismus verliert das strukturelle und personelle Rückgrat, mit dessen Hilfe er zum unabhängigen Kontrolleur staatlicher Macht und zur gesellschaftlichen Kontrollinstanz der Moderne aufsteigen konnte. Mehr denn je unterwerfen sich Medien einer Marktlogik. Das Internet beeinflusst die journalistische Arbeit und damit journalistische Qualität wesentlich, verändert in hohem Maße auch das Kerngeschäft von Journalismus – die Recherche.
„Ist das Internet gut oder schlecht für den Journalismus?“ – Diese Gretchenfrage treibt schon länger etliche Medienschaffende um, beherrscht nicht selten die Podiumsrunden auf Medienveranstaltungen, doch so ganz direkt gestellt und beantwortet wird sie eher selten. Einig sind sich Onliner, Fernseh- oder Printleute darin, dass im Internet ein enormes Potenzial für den Journalismus stecke – aber um eine Antwort, wie sich dieses Potenzial tatsächlich umsetzen lasse, sind die meisten Journalisten eher verlegen. Immer wieder bemühte wenig originelle Schlüsselbegriffe wie „vielschichtiger“, „multimedialer“, „interaktiver“ sind da wenig hilfreich. Das, was jahrzehntelang getrennt war, wächst im Internet langsam, aber zwangsläufig zusammen. Und weil sich Journalisten jahrzehntelang entweder mit Wort oder mit Ton oder Bild beschäftigten, neigen sie häufig dazu, die Probleme des Journalismus nicht im Großen und Ganzen zu betrachten, sondern sie aus ihren unterschiedlichen Gattungsperspektiven – ob Presse, Radio oder Fernsehen – zu konterkarieren. Im Netz aber vermischen sich nun mal die hergebrachten Medien und darin besteht auch die Chance, über einen „aufregenden“ Qualitätsjournalismus nachzudenken.
In der Essay-Serie „Wozu noch Journalismus“, die von mir und meinem Kollegen Leif Kramp in der Süddeutschen Zeitung und ihrem Online-Ableger sueddeutsche.de mit verantwortet wurde, erkannte Wolfgang Blau, Online-Chef von zeit.de im Internet „den größten Entwicklungssprung seit Erfindung des Rundfunks“. Er sagt dem Journalismus ein „goldenes Zeitalter“ voraus. Warum? Blau sagt: „Nie zuvor konnten Leser auf eine solche Vielzahl nationaler und internationaler Quellen zurückgreifen, um sich ihr eigenes Bild von der Welt zu machen. Nie zuvor wurden Redaktionen in so hoher Geschwindigkeit und Anzahl von ihren Lesern auf neue Aspekte oder auf Fehler hingewiesen. Nie zuvor konnten sich so viele Menschen selbst journalistisch betätigen.“ Es folgt ein weiteres interessantes Argument, das ich zentral für das neue Selbstverständnis im Journalismus halte: „Journalismus ist keine exklusive Profession mehr. Journalismus ist zu einer Aktivität geworden, die nur noch von einer Minderheit professionell ausgeübt wird. Ob ein Journalist professionell ist, bemisst sich nicht mehr daran, ob er mit seiner Arbeit Geld verdient, sondern allein daran, ob er professionelle Standards einhält, etwa in der Sorgfalt und Fairness seiner Recherche und der Qualität seiner Sprache.“
Weg vom Festungs-Journalismus
Blau folgert, dass sich die Branche von einem „Festungs-Journalismus“ lossagen müsse, um weiterhin reüssieren zu können. Er glaubt, dass das „Monopol der alten Medien-Institutionen auf journalistische Produktionsmittel und Vertriebswege nicht mehr wiederkehren wird“ und ruft die Redaktionen zum Experimentieren statt zum Lamentieren auf – zum Beispiel, indem sie stärker Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter zur Recherche und Publikation ihrer Beiträge nutzten oder die Kommentare der Nutzer in ihre tägliche Arbeit einbezögen.
Würden Wolfgang Blaus Appelle berücksichtigt, käme am Ende vielleicht eine Art „Netzwerk-Journalismus“ heraus, wie ihn auch der britische Journalist Peter Horrocks, Chef von BBC World Wide, bezeichnet hat – also nicht unbedingt ein Mitmach-Journalismus, an dem sich Laien und Bürger unkontrolliert beteiligen, sondern eher ein professioneller Journalismus, der dem Umstand geschuldet ist, dass sich das Internet zum allumspannenden Netzmedium unserer Gesellschaft entwickelt hat und noch weiter entwickeln wird. Weil das Netz längst kein Nebenthema mehr ist, sondern inzwischen jeden Bereich unseres Lebens prägt, sollten die Journalisten ihre Festungen mit den dicken Mauern verlassen und sich mit dem Volk vernetzen, um einen bürgernahen, authentischen Netzwerk-Journalismus zu praktizieren.
Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, knüpft hier an und hebt hervor, dass die Transformation des Journalismus auch für den Zustand unserer demokratischen Öffentlichkeit schlechthin entscheidend ist: Krüger weist darauf hin, dass es in Amerika und Europa seit Neuestem einige Journalisten und Mediennutzer gibt, die sich einer Slow-Media-Bewegung angeschlossen haben, wie die Slow-Food-Bewegung eine Art Gegenkonzept zum Fast-Food-Journalismus.
Slow Media setzt sich demnach dafür ein, dass die Nutzer weniger, dafür bessere Medien konsumieren können, und dass sich die Journalisten wieder mehr Zeit für Recherche, Fact-Checking und Akkuratesse im Produktionsprozess nehmen. Krüger glaubt ferner, dass es den Verfechtern der Slow-Media-Bewegung gar nicht so sehr darum gehe, den journalistischen Berufsstand zur sakrosankten Zone zu erklären. Vielmehr würden immer mehr Menschen angesichts des Informationsdurcheinanders auch im Medienbereich gesteigerten Wert auf Nachhaltigkeit und Qualitätsprodukte legen, dem der Wunsch nach einer Entschleunigung des Journalismus entsprechen würde. Im Kern dieser Strategie steht somit, eine seriöse, hochwertige Berichterstattung als Schmiermittel und Leim der Gesellschaft langfristig zu erhalten und Rahmenbedingungen für den Journalismus zu schaffen, so dass er seine Stärken letztlich (hoffentlich) doch noch monetarisieren kann.
Ausgehend davon, dass die Veränderungen im Journalismus auch für unser politisches System und unsere Gesellschaft als Ganzes relevant sind, erkennt man schnell vier Kernprobleme:
Erstens: Der Qualitätsjournalismus hat bis auf weiteres erhebliche Finanzierungsprobleme: So meldete der BDZV im Sommer bei Deutschlands Zeitungen für 2009 einen Rückgang der Netto-Erlöse aus Werbung von drastischen 15,9% gegenüber dem Vorjahr: Das liegt vor allem an der weggebrochenen Finanzierung durch Kleinanzeigen und klassische Werbung. Die Konkurrenz durch Internet-Versandriesen und -Auktionshäuser, durch Immobilien- und Kfz-Portale, durch Stellen- und Reisebörsen und – natürlich – Google ist einfach zu groß und diese Konkurrenz ist hellwach. Viele Verlage haben schon vor Jahren den Anschluss verpasst, als es darum hätte gehen müssen, neue Modelle auszuprobieren, um die Innovatoren aus dem Netz einzuholen. Jetzt können sie nur versuchen, das Verpasste aufzuholen.
Das zweite Problem, das vielen Medienschaffenden Kopfschmerzen bereitet, ist die Umsonst-Kultur im Netz, die Springer-Chef Mathias Döpfner als „Web-Kommunismus“ beschimpft hat. Es ist nachvollziehbar, dass Verlagsriesen wie die Axel Springer AG, Gruner+Jahr oder die WAZ-Gruppe es für absurd halten, ihre Inhalte einfach an die Nutzer herzuschenken – schließlich ist aufwändiger Journalismus mit immensen Kosten verbunden. Allerdings wären laut einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung nur zehn Prozent der Deutschen überhaupt bereit, für Nachrichten im Netz zu zahlen. Den Gratiswahn über Bezahlmodelle einzudämmen, wie es die Verlage immer wieder ankündigen, ist also überaus ambitioniert, aber mit einer konzertierten Strategie könnte das vielleicht am Ende gelingen.
Neandertaler der digitalen Ära
Der selbstbestimmte Umgang mit Informationen, die jederzeit brandaktuell und von fast jedem Ort abgerufen werden können, ist eine der faszinierendsten Erfindungen unserer Zeit. Er birgt aber auch ein drittes Problem in sich, das vielleicht am schwersten in den Griff zu bekommen ist: Dem Journalismus wird nicht mehr die Aufmerksamkeit zuteil, die ihm vielleicht zuteil werden sollte. Auch wenn viele Zeitungsleser noch nicht zur Generation Facebook gehören, müssen sie akzeptieren, dass die Informationskultur nervöser, auch unverbindlicher geworden ist.
Ein letztes, viertes Kernproblem betrifft den Journalismus selbst: Leider gibt es bisher nur wenige Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für alte und junge Journalisten und erst wenige Hochschulen und Ausbildungsstätten, die einer Neuerfindung der Profession Rechnung tragen und den journalistischen Nachwuchs auf den digitalen Strukturwandel wirklich vorbereiten. Ich habe die Journalisten wegen ihrer Resistenz, oder sagen wir: der anhaltenden Blindheit gegenüber der eigenen Zukunftsfähigkeit deshalb kürzlich etwas zugespitzt als „die Neandertaler der digitalen Ära“ bezeichnet. Die Neandertaler sind bekanntlich ausgestorben, weil sie sich nicht weiterentwickelt und fortgepflanzt haben. So wird es auch den Journalisten ergehen, wenn sie sich nicht für die digitale Zukunft im Netz wappnen und intellektuell-handwerklich offener werden für neue Wege und Möglichkeiten.
Symptomatisch für das ganze Ausmaß dieser vier Probleme ist das allmähliche Verschwinden der gedruckten Presse, die über Jahrzehnte Garant und Motor für Qualitätsjournalismus war. Doch gerade der Tageszeitungsjournalismus hat es derzeit mit sehr viel Wandel auf einmal zu tun – und das wird noch einige Zeit andauern: Da sind die Nutzer, für die Rituale weniger zählen als spontane Events. Da ist die Neigung junger Menschen, sich online zu informieren, sei es am Laptop oder per Smartphone. Da sind die Werbekunden, die mit dem Publikum mitgehen und am liebsten ihre eigenen Medien gründen wollen, um ihre Produkte in einem guten Werbeumfeld zu präsentieren. Und schließlich bietet die Industrie in immer kürzeren Abständen neue Geräte für den Medienkonsum, wie beispielsweise das iPad. Die Zeiten, in denen etwa an den ersten Hausstand ein Zeitungsabonnement gekoppelt war, das dann ein Leben lang hielt und irgendwann an die Nachkommenschaft weitervererbt wurde, sind vorbei.
Wenn nun allerdings weiter an Qualität – sprich: an Inhalten und Personal – gespart wird, wie es sich derzeit abzeichnet, berauben sich die Zeitungen ihrer wichtigsten Grundlage, wegen derer sie überhaupt noch gekauft werden. Oder sie kannibalisieren sich selbst, wenn sie auf gut gemachten, teuren Journalismus verzichten. Wenn sich die professionellen Medien keine hochwertigen Recherchen und Auslandskorrespondenzen, keine aufwändigen Reportagen und Analysen mehr leisten können oder wollen, löst sich die Presse als Vierte Gewalt in ihre molekularen Bestandteile auf – und das würde längst nicht nur dem Image der Verlage schaden, sondern auf lange Sicht auch dem Kitt unserer demokratischen Öffentlichkeit, wie wir ihn derzeit kennen.
Fest steht zumindest, dass der Journalismus in den vergangenen 100 Jahren ganz gut über die Runden gekommen ist. Davon, dass die Verlegerfamilien, private TV-Unternehmer und Radio-Kettenbetreiber mit journalistischem Content fette Kasse machen konnten, profitierten nicht nur die Journalisten selbst, sondern auch die Gesellschaft, für die der Journalismus dadurch zum „Schmiermittel und Leim“ gleichermaßen werden konnte.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts geht es dem Journalismus allerdings aufgrund der aktuellen kapitalistischen Wende sprichwörtlich an den Kragen: Er verliert das strukturelle und personelle Rückgrat, mit dessen Hilfe er zum unabhängigen Kontrolleur staatlicher Macht und zur gesellschaftlichen Kontrollinstanz der Moderne aufsteigen konnte. Das wachsende Ungleichgewicht von Markt und Macht, ausgelöst durch den Würgegriff der Ökonomisierung fast aller Medienbereiche, rüttelt heute an den Grundfesten des Journalismus – oder anders gesagt: Die Medien unterwerfen sich mehr denn je einer Marktlogik, als ihnen gut tut. Das journalistische System büßt durch den Verlust seiner ökonomischen Autonomie vor allem seine publizistische Unabhängigkeit ein.
Es gibt kein Recht auf Journalismus, soviel steht fest. Aber es gibt in unserem Land ebenfalls keines, das den Journalismus verbieten würde. Und vielleicht ist ja gerade das der Casus Knacksus, warum auch die Politik daran interessiert sein müsste, die Unabhängigkeit, Vielfalt und Überparteilichkeit unserer Presse zu erhalten: Wenn sich ein Marktversagen im Pressesektor weiter ausbreitet, muss sich eine Demokratie ernsthaft überlegen, in welchem Ausmaß sie sich das überhaupt leisten kann.
Zurück zum Ausgangspunkt: Ist das Internet nun gut oder schlecht für den Journalismus? Fest steht, dass das Internet den Journalismus nicht verbessert oder verschlechtert – jedenfalls nicht per se, denn es kommt darauf an, wie man es professionell einsetzt und nutzt. Aber das Netz weist wesentliche Charakteristika im Vergleich zu anderen Medienkanälen auf, die – wenn sie handwerklich-praktisch sinnvoll umgesetzt werden – die Qualität und das Erscheinungsbild journalistischer Angebote erheblich aufwerten. Mindestens vier Bereiche werden das Handwerk des Journalismus nachhaltig verbessern: Neue Tiefenstrukturen erhöhen sowohl die Transparenz als auch die Güte journalistischer Recherchen, das Dialog-Prinzip im Netz ermöglicht dynamische, sich fortschreibende Themen und Inhalte, journalistische Angebote können individuell aufbereitet und zielgruppenspezifisch vermittelt werden, die Einbindung des Nutzers über Social Communities begünstigt die Entstehung redaktioneller Informations- und Wissensdatenbanken.
Weiterhin steht außerfrage, dass unsere Demokratie auch in Zukunft noch professionellen Journalismus brauchen wird: um Orientierung und Übersichtlichkeit zu schaffen, um zu verdeutlichen, was relevant und wichtig, aber auch was unwichtig ist, um zur politischen Meinungsbildung beizutragen, um Werte und Normen zu vermitteln, um die Mitglieder unserer Kultur und Gesellschaft zu integrieren – und um im günstigsten Fall ein verlässliches Frühwarnsystem für gesellschaftliche und politische Krisen zu bilden.
Über den Autor Dr. Stephan Weichert
Dr. Stephan Weichert ist Professor an der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) in Hamburg und leitet dort den Studiengang Journalistik. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören Die Meinungsmacher. Über die Verwahrlosung des Hauptstadtjournalismus (Hamburg 2010), Digitale Mediapolis. Die neue Öffentlichkeit im Internet (Köln 2010), Wozu noch Journalismus? Wie das Internet einen Beruf verändert (Göttingen 2010) und Wozu noch Zeitungen? Wie das Internet die Presse revolutioniert (Göttingen 2009). Weichert ist Vorstandsmitglied bei Netzwerk Recherche e.V. und Gründer des Vereins für Medien- und Journalismuskritik e.V., der das Internet-Medienmagazin Cover herausgibt.