Eine Spezies, die Geschichten erzählt

Eva Leipprand ist Vorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) in ver.di
Foto: Privat

Romane, etwa von Orwell oder Huxleys, sind Kulturgüter und zeigen bis heute beispielhaft, wie Kultur als Kommunikationsraum funktionieren kann. Aber nicht nur die Literaten arbeiten an den kulturellen Narrativen, sondern alle Kulturschaffenden – von den Journalistinnen über die Theaterleute, die Filmemacher, die Musikerinnen und die Bildenden Künstler. Sie alle liefern die Bilder und Symbole für das große gesellschaftliche Gespräch. 

„Wir sind eine Spezies, die sich Geschichten erzählt.“ Ein Zitat von Ex-Präsident Barack Obama, der ein begeisterter Leser ist. Indem wir Menschen uns Geschichten erzählen, bringen wir das, was wir sehen und erleben, in einen Zusammenhang; wir ordnen und deuten die zunächst chaotisch erscheinende Welt und geben ihr Sinn. Wir denken uns aber auch Dinge aus, die wir nicht sehen, spekulieren über Möglichkeiten und Alternativen und erfinden gemeinsame Mythen. Das kann nur der Homo Sapiens, sagt Noah Harari in seinem Buch „Die kurze Geschichte der Menschheit“. Das ist Teil seiner Kultur und verleiht ihm die Fähigkeit, sich in großen Gruppen zu verständigen und zusammenzuarbeiten, ein entscheidender Wettbewerbsvorteil in der Evolution.

Mittels Kultur kommuniziert eine Gesellschaft und verständigt sich über sich selbst. „1984“ zum Beispiel, George Orwells fast siebzig Jahre alter Roman, wird auch heute noch von allen sofort verstanden als Symbol für eine Diktatur, die die Sprache verdreht und ihre Herrschaft auf der Pervertierung der Begriffe aufbaut; nach der Wahl Donald Trumps war das Buch ausverkauft. Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ ist als Synonym für eine totalitäre Optimierungs- und Konsumdiktatur ebenfalls wieder hochaktuell.

Durch Kultur schaffen wir Menschen den Rahmen für unser Denken und Handeln. Wieviel von dem, was wir für unumstößliche Wahrheit halten, ist in Wirklichkeit eine kulturelle Vereinbarung der Gesellschaft, vielleicht aus ihrer speziellen Geschichte entstanden, ein Mythos, in kulturellen Symbolen aller Art festgehalten und weitergegeben. Solche Mythen dienen in bestimmten Entwicklungsphasen dem Zusammenhalt einer Gesellschaft, aber in dem Maße, wie sich die äußeren Bedingungen ändern, müssen sie immer wieder auf ihre Lebensdienlichkeit hin befragt werden. Was einmal richtig war, muss nicht immer richtig bleiben. Kulturelle Setzungen wie „Macht euch die Erde untertan“ oder „Seid fruchtbar und mehret euch“ haben sich inzwischen ganz klar als überholt erwiesen. Neue Möglichkeiten müssen erkundet und durchgespielt werden. So wird zurzeit das überlieferte Verhältnis der Geschlechter vehement und fundamental hinterfragt. Könnte die weibliche Haltung zur Welt am Ende die zukunftsfähigere sein? Ist männliches Konkurrenzdenken und Übertrumpfungsgehabe zu gefährlich geworden auf unserem immer dichter bevölkerten Planeten? Wir Menschen müssen uns kulturell weiterentwickeln, wenn wir als Spezies überleben wollen. Vielleicht erzählen wir uns deshalb so gerne Geschichten: um nicht in einem einmal gefundenen Rahmen stecken zu bleiben, um unseren Horizont zu öffnen, um zu erkennen, dass es die Wahrheit nur im Plural gibt. Um die Welt als eine sich entwickelnde wahrzunehmen.

Die enorme Bedeutung des Kulturellen ist uns meist nicht bewusst. Kulturdiskussionen sind aber deshalb oft so emotional, weil wir unterschwellig spüren: es geht um etwas ganz Wesentliches, um die Gestaltung der Zukunft. Vordergründig wird meist über Geld gestritten, wer kriegt wieviel. Aber dahinter steht die Frage: Wer darf in diesem großen gesellschaftlichen Gespräch mitreden, wer darf die Vergangenheit deuten, wer darf die Gegenwart prägen, wer darf Einfluss nehmen auf die zukünftige Entwicklung?

Die Bundestagswahl mit ihren verstörenden Ergebnissen hat uns mit Wucht darauf gestoßen, welch große Bedeutung gesellschaftlichen Narrativen zukommt. Konflikte werden zunehmend kulturalisiert, mit symbolischer, ja sakraler Bedeutung aufgeladen. Um Klimawandel, Genderfrage oder Marktfreiheit werden Glaubenskriege geführt, hochemotional, es geht unmittelbar um Gut und Böse. An der Frage der Zuwanderung zeigt sich dies in all seiner Sprengkraft. Die einen finden durchlässige Grenzen großartig, den kulturellen Pluralismus, die offene Gesellschaft. Die anderen wünschen sich kontrollierte Grenzen, eine klar definierte kulturelle Identität und Zusammenhalt in einer überschaubaren Gemeinschaft. Das Aufwärmen überlebter, hochgefährlicher Mythen wird Rückversicherung und Waffe zugleich. Diesen schwelenden Kulturkampf müssen wir verstehen lernen und als Aufgabe begreifen, wenn die Gesellschaft nicht auseinanderfallen soll. Innerhalb unseres Landes, aber auch im Verhältnis zum Rest der Welt.

Alle, die schreiben, literarisch, im Journalismus, in den Medien, haben hier besonderen Einfluss und besondere Verantwortung. Soeben bin ich von einer großen Wochenzeitung gebeten worden, an einer Umfrage teilzunehmen. Es geht dabei um die Rolle des traditionellen Journalismus gegenüber den sozialen Medien wie Facebook und Twitter. Ich kreuze gerne und mit fester Überzeugung an, dass es für mich von unbezahlbarem Wert ist, eine gute Tages- oder Wochenzeitung zu lesen, die Hintergründe recherchiert, ihre Quellen klarlegt, unterschiedliche Blickwinkel und Meinungen aufweist und mir die Möglichkeit bietet, eine eigene Meinung zu bilden. Nur wenn ich meiner Zeitung vertraue, bin ich auch bereit, liebgewordene Standpunkte erschüttern zu lassen und zu revidieren. Denn es ist nicht anzunehmen, dass meine derzeitige Meinung die einzig mögliche und immerwährend gültige sein kann.

Und natürlich können Bücher helfen. Wann war Literatur wesentlicher als jetzt? Wann war es so notwendig wie jetzt, den Perspektivwechsel zu üben, aus dem eigenen Echoraum herauszukommen, Empathie zu lernen. Narrative auszutauschen, zu beschreiben, was einem selber wichtig ist, zu verstehen, wovor der andere Angst hat. Zu zeigen, wie unterschiedlich Menschen leben und fühlen können. Zu erleben, dass sich die eigene Kultur über Jahrhunderte im Austausch mit anderen angereichert und erneuert hat und das auch weiterhin tun wird. Dass Vielfalt eine Ressource für die Zukunft ist. Dass Entwicklung etwas ist, das man gestalten kann und muss. Wie gut, dass wir eine Spezies sind, die sich Geschichten erzählt.

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