Wo liegen Chancen und Risiken sozialer Medien für den Journalismus, wie kann das partizipatorische Potenzial genutzt und Hetze begrenzt werden? Antworten gaben und suchten Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen bei einer Konferenz der CIVIS Medienstiftung für Integration und kulturelle Vielfalt in Europa. Die Situation in Deutschland sei dabei im Vergleich zu anderen Ländern noch entspannt, sagte Carsten Reinemann aus München. In anderen Ländern sei der ökonomische Druck auf die Medien weitaus stärker als hierzulande.
Die sozialen Medien seien ein zentraler, wenn nicht sogar der Treiber des Wandels im Journalismus der letzten Jahre, konstatierte Reinemann, Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität. und verwies dabei auf mehrere Studien. Gleichwohl scheint sich im Verhältnis beider ein Perspektivwechsel zu vollziehen: Redaktionen sehen nicht mehr nur den Stress mit Hate Speech in jeglicher Form, sondern auch die Chancen für mehr und neue Themen und eine direktere Beziehung mit den Bürger*innen.
Noch stünden zumeist rechtsradikale, rechtspopulistische und rechtsextremistische Diskurse auf Social Media im Zentrum der Debatte, denke man etwa an Morddrohungen oder Aufrufe zu Fackelaufmärschen vor den Häusern von Politiker*innen. Die Politikwissenschaftlerin und Publizistin Natascha Strobl erkennt radikalisierte Diskursstrategien in den Accounts. So werde Masse vorgetäuscht und durch Provokation versucht, selbst in kleinen Accounts Größe zu erzeugen. Die einmal errungene Präsenz ermögliche dann eine Dynamisierung bei der Verbreitung der Ansichten. Dazu passte die von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan, genannte Relation, dass fünf Prozent der Accounts die Hälfte der Kommunikation in den sozialen Netzwerken posteten.
Gefragt, ob Journalist*innen mit ihrer Berichterstattung über diese Minderheit extreme Ansichten größer machten, antwortete Strobl, es sei eine „faule Art“, Menschen nur das eigene Mikrofon hinzuhalten. Es gehe vielmehr darum, in Kontexte einzuordnen und Zusammenhänge herzustellen. Gegen den Diskurs stehe aber auch, dass es oftmals nur um Überschriften gehe. Die würden weiter geteilt. Bis zum zweiten Satz läsen viele gar nicht mehr – eine schwere Bürde für den Qualitätsjournalismus.
In der journalistischen Arbeit können soziale Netzwerke ungemein bereichern. Die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann nannte unter anderem einen möglichen Vorsprung in der Recherche. Der Chefredakteur des Kölner Stadtanzeigers, Carsten Fiedler, verwies beispielhaft auf die Berichterstattung seiner Zeitung zu den Vorfällen auf der Kölner Domplatte zum Jahreswechsel 2015/16. Hier fanden die Journalisten die ersten Rückmeldungen betroffener Frauen. Mittlerweile sei Social Media auf lokaler Ebene wie auch als Ausspielweg äußerst wichtig. Die Redaktion können schneller auf Debatten und Kritik reagieren. Für Fiedler wie Diekmann bringen die Kanäle nicht nur neue Themen, sondern auch eine neue Auseinandersetzung mit der journalistischen Arbeit. Gleichwohl dürfe man sich nicht treiben lassen und dadurch wirkliche wichtige Themen vernachlässigen, sagte Diekmann und verwies auf den Lacher von Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet im Flut-Katastrophengebiet, womit Fragen nach fehlenden politischen Konzepten völlig verdrängt wurden.
Die Chancen durch soziale Medien böten sich nicht nur lokal und national, sondern auch international, so der frühere Spiegel-Korrespondent Hasnain Kazim. Da sich über soziale Netzwerke viele Informationen schnell und auch per Bild verbreiteten, sehe er seine Aufgabe darin, die Einzelgeschichten zu verifizieren und in eine große Erzählung einzubetten. „Das Kuratieren gewinnt an Bedeutung.“
Eine vielschichtige Aufgabe bleiben auf allen Ebenen die Communities. Ihr Management werde immer wichtiger, sagten Diekmann und Fiedler. Er verwies auf 14.000 Kommentare pro Woche allein auf Facebook, dem immer noch stärksten sozialen Kanal der Redaktion. Bis zu 2.000 würden wöchentlich abgelehnt. Oft konzentriere man sich auf Hate Speech. Ziel sei es aber, Social Media stärker im regionalen Bereich zu nutzen und neue Communities aufzubauen. Es sei auch nicht mehr so, dass Werksstudenten die Kanäle betrieben. Genau darin hatte Diekmann einen Schwachpunkt erkannt. Die Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio ist sich durchaus bewusst, dass das auch eine finanzielle Frage ist. Das hätten beim „Kölner Stadtanzeiger“ mittlerweile Journalist*innen übernommen.
Der freie Journalist und Buchautor Kazim hingegen hofft, dass Communities nicht noch wichtiger würden. Er lese die Kommentare nicht, zumal sich die meisten untereinander beschimpften. Wichtiges würde ihn ohnehin erreichen. Kazim wünscht sich ein Vorgehen, wie es eine norwegische Zeitung praktiziere. Danach darf nur kommentieren, wer drei Fragen zum Beitrag beantworten kann.
Für Chefredakteur Fiedler ist klar, dass das Sender-Empfänger-Prinzip der Vergangenheit angehört. Aber die sozialen Medien böten auch die Möglichkeit, die Unter-20-Jährigen anzusprechen, die mit der Printzeitung nicht zu erreichen seien. Beispielsweise werde der tägliche lokale Newsletter von 50.000 Menschen geöffnet. Der schnellere Kontakt und die nahbarere Ansprache eröffneten Möglichkeiten für neue Podcast- und Newsletter-Strategien und weitere neue Formate. Ein Erfolgsrezept sei zugleich, „nicht nur draufzuhauen, sondern Lösungsansätze aufzuzeigen, auch wenn wir nicht selbst lösen können“.
Die Politikwissenschaftlerin Strobl wünscht sich, dass die Journalistinnen und Journalisten mutig bleiben. Denn trotz einer lauten Minderheit schätze die Mehrheit der Menschen die journalistischen Einordnungen.