Guter Journalismus ist konstruktiv

35. Journalismustag 2023 "Bye Bye Bad News" Fotos: Kai Herschelmann

„Konstruktiver Journalismus ist guter Journalismus, nichts anderes!“ So Keynote-Sprecherin Sham Jaff auf dem 35. ver.di-Journalismustag am 4. März in Berlin, der danach fragte, wie wir „mit Constructive News durch die Krise“ kommen. Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, Klimanotstand – angesichts geballter schlechter Nachrichten schalten viele Rezipient*innen ab und Medien setzen große Hoffnungen in konstruktiven Journalismus. Die Konzepte sind facettenreich.

Sham Jaff (freie Journalistin, Bonn Institute) hielt beim Journalismustag „Bye bye bad news – mit Constructive Journalism durch die Krise?“ die Keynote Foto: Kay Herschelmann

Seit 2014 schreibt Sham Jaff, freie Journalistin in Berlin, den Newsletter „what happened last week“ mit Nachrichten aus dem globalen Süden. Außerdem moderiert, redigiert und produziert sie zahlreiche Podcasts. Für „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ wurde sie 2021 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Auf dem Journalismustag erläuterte Jaff, welche Chancen konstruktiver Journalismus für Medienschaffende bietet. Gleichzeitig distanzierte sie sich von der „unnötigen Debatte“ über „Labels“ wie Wohlfühljournalismus mit „nur guten Nachrichten“ oder „Schönfärberei“ und räumte mit Aktivismusvorwürfen auf.

„Gesellschaften brauchen Journalist*innen, um verlässliche Informationen und den Bezugsrahmen für eine gemeinsame Realität zu schaffen“, sagte sie und betonte die große Verantwortung, die damit verbunden ist – besonders in Krisenzeiten. Viele Menschen meiden die schlechten Nachrichten, weil sie sich damit „schlecht fühlen“. „Wir können nicht dafür sorgen, dass der Krieg in der Ukraine aufhört oder dass die Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei in den nächsten 15 Minuten alles bekommen, was sie brauchen. Aber eine Lösung liegt darin, wie wir weiterhin Nachrichten produzieren“, so Jaff.

Der konstruktive Journalismus solle da „als Einladung verstanden werden, neu über Journalismus nachzudenken, über die veränderten Situationen und wie wir darauf reagieren könnten“. Wir hätten die Verantwortung, Menschen so zu informieren, dass sie nicht „ihre mentale Gesundheit gefährden oder gar ihre Zeit verschwenden.“ „Wir sind ja jeden Tag in der luxuriösen Situation, völlig frei zu entscheiden, über welches Thema wir berichten“ und „ob wir Konflikte verschärfen oder Menschen ins Gespräch bringen“. Wir könnten über die Katastrophen dieser Welt berichten und gleichzeitig den Blick für Lösungen weiten, sagte Sham Jaff und fuhr fort: „Wir können unsere Perspektive für die sogenannte normale halten oder Vielfalt wertschätzen und neugierig suchen.“ Das gelte sowohl für Medienprodukte als auch für die wenig diversen Redaktionen. Konstruktiver Journalismus biete das Handwerkszeug, „zukunftsorientierte Debattenformate“ zu entwickeln, etwa Talkshows mit mehr Vielfalt, die unterschiedliche Stimmen präsentieren und dadurch zu mehr Erkenntnisgewinn beitragen.

Wenn man Betroffenen zuhöre und ihre Forderungen an die Politik in den Vordergrund stelle, sei das nicht aktivistisch, sondern diene der Suche nach Lösungen, die genauso kritisch analysiert werden wie Probleme. Für ihren „Hanau“-Podcast habe sie mit den Familien der Ermordeten gesprochen und eine Beziehung zu ihnen aufgebaut, die auf Vertrauen und Empathie basiert, erzählte sie. Die Betroffenen dürften sich nicht viktimisiert oder ausgenutzt fühlen. Den Kontakt halte sie seit 2021 und verfolge, wie es den Menschen geht und was aus ihren Forderungen an die Politik wird. Ihr sei es dabei wichtig, die Betroffenenperspektive auf eine strukturelle Ebene zu heben und zu zeigen, wie sich die Hanau-Berichterstattung einreiht in den Umgang mit Rechtsextremismus und Gewalt. Die Geschichte möchte sie auch Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, nahbar machen.

Globale Zusammenhänge aufzeigen

Lösungsorientierter Journalismus zeige auf, was noch nicht funktioniert und wie es funktionieren könnte, indem er in andere Länder, auf andere Kulturen blickt und globale Zusammenhänge aufzeigt. So frage sie, was an den europäischen Grenzen schiefläuft, warum dort so viele Geflüchtete sterben und was Deutschland damit zu tun hat? Warum ist die Arbeitslosigkeit in anderen Ländern niedriger und warum werden deren Lösungen hier nicht umgesetzt?“ Auf ihren News-letter „what happened last week“ angesprochen, bekräftigte sie, dass es „absolut“ wichtig sei, den eurozentristischen Blick auf Länder in Asien, Afrika und Zentralamerika aufzubrechen, und damit Stereotype abzubauen.

Beim konstruktiven Journalismus gehe es nicht darum, Lösungen „zu verkaufen“, sondern sie zur Diskussion zu stellen. Journalismus dürfe sich nicht von Clickbaiting verleiten lassen, sondern müsse als vierte Gewalt Missstände aufdecken und dann „etwas bewirken, aber dabei kann man was besser machen“. Das sei auch ihr Motiv gewesen, Journalistin zu werden. Wir müssten uns unserer Verantwortung bewusst sein, Lösungsansätze recherchieren, „den Menschen Handlungsoptionen zeigen und ihnen ein Gefühl der Selbstwirksamkeit geben“. Vielleicht kämen sie dann auf neue Ideen und „wir können dem furchtbaren Trend der Nachrichtenvermeidung entgegenwirken!“

Sham Jaff gehört zum Kuratorium des Bonn Institute für Journalismus und konstruktiven Dialog, das 2022 in der deutschen Ex-Hauptstadt gegründet wurde – von einer Allianz aus Deutscher Welle, Rheinischer Post Mediengruppe, RTL Deutschland und dem dänischen Constructive Institute an der Universität Aarhus. „Gerade in Krisenzeiten sehen wir, wie wichtig es ist, dass Redaktionen ihr Publikum mit den Problemen nicht allein lassen und den Menschen einen echten Mehrwert durch faktenbasierten und konstruktiven Journalismus bieten“, sagte Ellen Heinrichs, Geschäftsführerin des Instituts (Buchrezension S. 9). Im Leitbild wird dieser definiert als „lösungsorientierter, perspektivenreicher und dialogorientierter. Damit Menschen ihm vertrauen und gute Entscheidungen für ihr Leben treffen können.“

Das Institut wendet sich an verschiedene Zielgruppen und lässt Medienprofis zu Wort kommen, die ihre Erfahrungen teilen. Eine von ihnen ist die mehrfach ausgezeichnete Journalistin, Filmemacherin und Autorin Ronja von Wurmb-Seibel, die über den „Sonderfall Kriegsberichterstattung“ schreibt. Sie war Politik-Redakteurin bei der „Zeit“, bevor sie ab 2013 zwei Jahre lang als Reporterin aus Kabul berichtete. Auf dem Journalismustag sagte sie im Gespräch mit Manfred Kloiber und Tagungsteilnehmenden: „Konstruktiver Journalismus ist bei jedem einzelnen Thema möglich!“ Während ihrer Zeit in Afghanistan habe sie viel Leid und Armut erlebt: „Ich wollte diesen ganzen Horror nicht so weitergeben, sondern schauen, wo gibt es einen Hoffnungsschimmer, Perspektiven, wie man es besser machen kann und bin damit sehr gut gefahren“, erklärte sie. Bei Recherchen für ihren Dokumentarfilm über einen Terroranschlag in Kabul sei sie auf Studien zur gesundheitsschädlichen Wirkung von negativen Informationen gestoßen und wollte zeigen, wie Medien Geschichten so erzählen können, dass sie Mut machen. Das thematisiere sie in ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen. Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien“.

Ronja von Wurmb-Seidel wurde in den Journalismustag zugeschaltet Foto: Kay Herschelmann

Nach der Formel „Scheiße plus X“

Wenn Menschen angesichts der vielen Krisen im Internet exzessiv negative Nachrichten konsumieren, mache sie – besonders das Doomscrolling im Internet – mental krank und führe zu Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Sie wollten sich informieren, merkten aber, dass der Nachrichtenkonsum „ihr ganzes Leben sprengt“ und vermieden ihn. Das wirke sich auf die ganze Gesellschaft auf, „wenn so viele Menschen keine Nachrichten mehr konsumieren, nicht mehr wählen gehen oder sich sozial engagieren“. Diesen Trend könne konstruktiver Journalismus umkehren.

Nach psychologischen Forschungserkenntnissen könnten „wir eigentlich sehr gut mit Krisen umgehen“, die „allermeisten Menschen halten zusammen, werden solidarisch, wachsen über sich hinaus und werden erfinderisch“, so von Wurmb-Seibel. Das einzige, „was wir nicht so gut können“, sei der Umgang mit Ohnmachtsgefühlen und Hilflosigkeit. Da sei es wichtig, in der Berichterstattung zu vermitteln, dass „wir immer noch Handlungsmöglichkeiten haben“.

Bei Katastrophen wie Erdbeben, „wurde uns beigebracht, dass wir mit einer Spende etwas bewirken können“, schwieriger sei es etwa beim innenpolitischen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Da hätten die meisten nicht gelernt, wie sie sich einbringen und wie sie etwas fordern können“, so von Wurmb-Seibel. Das hänge damit zusammen, dass politische Probleme in der Berichterstattung oft zum Dauerthema werden und Lösungsperspektiven fehlen. Es gebe einen Schlagabtausch zwischen den streitenden Parteien und Bewältigungsstrategien würden als „nicht machbar“ oder „alternativlos“ präsentiert. Medien könnten in dem Fall – etwa mit Verweis auf andere Länder – Druck auf Politiker*innen und andere Führungspersonen ausüben. So sei konstruktiver Journalismus nicht nur gut für die mentale Gesundheit der Menschen, sondern verbessere auch die demokratische Kontrollfunktion der Medien als vierte Gewalt.

Wenn es um die Gewichtung von Themen geht, galt bisher „Only bad news are good news“. Das bedeutet, nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, weil sie mehr Aufmerksamkeit bei den Rezipient*innen bekommen. Evolutionsbiologisch bedingt schätzten Menschen negative Informationen als relevanter ein, erklärte von Wurmb-Seibel. So achteten sie eher auf den Tiger, der auf der Wiese steht, als auf die Schafsherde auf der anderen Seite. Da Menschen in Deutschland und Europa heute nur noch selten solche lebensbedrohlichen Gefahren erlebten, stehe uns dieses Reaktionsmuster „heute sehr oft im Weg“. Bei der Gewichtung von Themen solle man immer reflektieren, „ist das jetzt so ein Tiger-Moment und kann ich da noch mal gegensteuern“.

Wie das geht, brachte sie auf die kernige Formel „Scheiße plus X“ – das bedeutet, „dass wir bei jedem Problem, ob beruflich, journalistisch oder privat, nach dem „X“ suchen“, das Handlungsoptionen aufzeigt. Wenn Rezipient*innen das nicht bekommen, sollten sie andere Medienangebote wählen oder seltener Nachrichten konsumieren, denn „Ohnmachtsgefühle durchlöchern zu häufig unseren Alltag“ und verfestigten sich dann. Wenn Medien in Krisenzeiten auch über einzelne positive Beispiele berichten, führe das nicht dazu, dass Menschen sich weniger ohnmächtig fühlten, so von Wurmb-Seibel. Journalist*innen sollten das „X“ deshalb immer mitliefern – in jedem einzelnen Beitrag!

Das gesamte M-Magazin mit ausführlichen Berichten über den 35. Journalismustag von ver.di 


„M Der Medienpodcast“ im Gespräch mit Sham Jaff über die Notwendigkeit, konstruktiv zu berichten

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Mehr Informationen


Der aktuelle Bericht auf M Online vom 6. März 2023 über den 35. Journalismustag

Keine Bad News ohne positive Zugabe – M – Menschen Machen Medien (ver.di) (verdi.de)

35. Journalismustag von ver.di: Fishbowl mit Laura Goudkamp von „Weltspiegel Digital“ (l.) und Hanna Israel von der „Zeit“ (My Country Talks) (Mitte) mit Moderatorin Tina Fritsche von ver.di Hamburg (v.l.n.r.) Foto: Kay Herschelmann

 

 

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