Der diesjährige Journalismustag von ver.di stand unter dem Motto: „Bye bye bad news. Mit Constructive Journalism durch die Krise?“ Über 200 Medienschaffende nahmen am 4. März 2023 an der Konferenz in Berlin teil, berichteten über eigene Erfahrungen und debattierten Konzepte. Expert*innen aus der Praxis erläuterten, wie sich auch bei schwierigen Themen lösungsorientierte Perspektiven finden lassen und warum konstruktiver Journalismus dennoch kein „Wohlfühljournalismus“ ist.
„Wir leben in Zeiten multipler, einander überlagernder Krisen“, sagte ver.di Bundesvorstand Christoph Schmitz, selbst ehemaliger Journalist, zur Begrüßung der Konferenz. Angesichts übermäßiger Präsenz von Corona, Klimawandel oder dem Krieg gegen die Ukraine schien es für den Journalismus in lezter Zeit besonders schwer zu sein, auch andere relevante Themen zu behandeln. „Doch wenn sich angesichts multipler Krisen immer mehr Menschen von Nachrichten abwenden, muss der Journalismus neue Ansätze diskutieren, um die Gesellschaft zu erreichen“, sagte Schmitz. Um im Sinne des demokratischen Auftrags der Medien eine informierte Öffentlichkeit zu fördern, sei konstruktiver Journalismus daher vielversprechend. Denn in der Tat vermeiden es immer mehr Menschen bewusst, Nachrichten zu schauen, zu hören oder zu lesen. Soziale Medien werden für junge Erwachsene bei ihrem Medienkonsum hingegen immer bedeutender. Dennoch die demokratische Debattenkultur zu entwickeln sei die Aufgabe der Medien. Sie sollten dafür ihren journalistischen Handwerkskoffer nutzen und erweitern.
Konstruktiv Geschichten bis zu Ende erzählen
Sham Jaff schreibt seit 2014 den englischsprachigen Newsletter „what happened last week“, der die wichtigsten Nachrichten und ihre globalen Zusammenhänge erklärt – kurz, leicht verständlich, kritisch und konstruktiv. 2020 wurde sie für ihren Podcast „Wir schaffen das – Wie ein Satz Deutschland veränderte“ für den CIVIS Audio Medienpreis nominiert. Ihr Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ ist mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet worden. Das Thema des Tages sei „eine Einladung, neu über Journalismus nachzudenken und Verantwortung für die Wirkung von Journalismus zu übernehmen“, sagte Sham Jaff in ihrer Keynote. Sie betonte, dass es sich beim konstruktiven Journalismus, neben der Lösungsorientierung, ebenso um Fragen von Themensetzung und Diversity handele. Im M-Medienpodcast berichtet sie ausführlich über die damit verbundenen Haltungsfragen für die Journalist*innen. Gerade den eurozentristischen Blick vieler Beiträge kritisiert Jaff als wenig konstruktiv. Ihr fehle der globale Zusammenhang und die Beschäftigung mit mehr als bloß einem kleinen Teil der Welt. Insbesondere bei der Berichterstattung aus Konfliktgebieten werde oft nur ein Zugang gewählt, etwa es habe Gewalt gegeben. Jedoch werde beispielsweise nicht berichtet, welche Entwicklungen es in der Region gegeben habe, oder gefragt „Was tun die Leute dort, um miteinander ins Gespräch zu kommen?“ „Letztlich bleiben es immer bad news, wenn wir bei einer Geschichte an einem Punkt aufhören, ohne sie zu Ende zu erzählen“, so Sham Jeff.
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Nach dem Motto: „Scheiße plus X“
Digital zugeschaltet stellte sich die Buchautorin Ronja von Wurmb-Seibel den Fragen von Manfred Kloiber, Wissenschaftsjournalist beim Deutschlandradio. Wurmb-Seibel arbeitete als Redakteurin im Politik-Ressort der „Zeit“, bevor sie zwei Jahre lang als Reporterin aus Kabul berichtete. Dort war sie mit Themen und Tragödien konfrontiert, die sie auch persönlich schwer belasteten. Ähnlich geht es ebenfalls denen, die die Geschichten von Krieg, Tod und Elend tagtäglich lesen und hören. Die Forschung über Medienkonsum zeigt: Es sind nicht nur die Menschen traumatisiert, die direkt vom Terrorismus betroffen sind, sondern auch jene, die dem Terrorakt durch Nachrichten und Bilder der Gewalt beiwohnen. Zu viele negative Nachrichten lösen Ängste aus und versetzen uns in eine Art Hilfslosigkeit, erklärte Wurmb-Seibel. In ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen. Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien“, beschreibt sie Ansätze, der Hilflosigkeit zu entfliehen. Eine alte Binsenweisheit der Medien ist: „Bad news are good news“ – „schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ weil sie bei den Rezipient*innen höchste Aufmerksamkeit generieren. Das sei zwar nicht falsch. Doch Wurmb-Seibel schlägt einen Perspektivwechsel vor. Für einen Workshop, den die Autorin für Redaktionen konzipierte, brachte sie diesen auf eine einfache Formel. Dinge, die uns belasten, sind „Scheiße“, Ideen, die eine positive Bewegung bringen, heißen „X“. Nach dem Motto „Scheiße plus X“ schlägt Wurmb-Seibel vor, jedem negativen Stück ein solches X hinzuzufügen. Danach gelte es zu suchen.
In einer Fishbowl-Diskussion stellten Laura Goudkamp von „Weltspiegel Digital“ und Hanna Israel von der „Zeit“ (My Country Talks) ihre Formate vor und beschrieben, wie sie Menschen zu unterschiedlichsten Themen miteinander ins Gespräch bringen. Unter dem Motto: Brücken bauen: Stärkung der Debattenkultur durch konstruktiven Journalismus, zeigten sie Möglichkeiten, Räume zu schaffen für Menschen, die sonst nicht miteinander reden. Dabei werde, im Sinne der journalistischen Sorgfaltspflicht, darauf geachtet, dass bestimmte rote Linien nicht überschritten würden. Denn es gehe nicht darum, alle Meinungen als gleichwertig nebeneinander zu stellen. Vielmehr wolle man Gesprächsräume eröffnen.
Mögliche Lösungen auch kritisch hinterfragen
Die Studierenden der Abschlussklasse der Deutschen Journalistenschule Jesko Buchs, Benjamin Stolz, Anastasia Trenkler und Jonas Wagner stellten ihren Kurzfilm zum Thema konstruktiver Journalismus vor. Im anschließenden Publikumsgespräch äußerte sich Henriette Löwisch, Leiterin der Deutsche Journalistenschule, kritisch zum Konzept. Den Charme des konstruktiven Journalismus halte sie für gefährlich, weil sich letztlich alle eine Lösung für Probleme wünschten. Aufgabe von Journalismus könne es aber nicht sein, einfache Antworten zu liefern. Sie warnte vor inhaltlichen Verkürzungen. Befürworter*innen hielten dagegen, dass es zu den Qualitätskriterien eines guten konstruktiven Journalismus gehöre, eben nicht überall Positives zu sehen, sondern mögliche Lösungen auch kritisch zu hinterfragen.
Verdi FINAL.mp4 – Google Drive
Praktische Anwendungen
In fünf Workshops konnten sich die Teilnehmenden am Nachmittag austauschen und diskutieren. Sieh`s doch mal anders! meinte Daniel Bax von den Neuen deutsche Medienmacher*innen und beschrieb, wie wir Klischees und gängige Narrative durchbrechen können. Das konstruktive Kontern, war Thema bei Tobias Meilicke von der Beratungsstelle veritas. Aufgezeigt und diskutiert wurde, wie Verschwörungsmythen und Fake News entlarvt und wie ihnen entgegengetreten werden kann. Heike Kleffner vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. erklärte, wie Medienschaffende sich vor Angriffen und Bedrohungen im Netz und auf der Straße schützen können und wo es Unterstützung gebe. Vor allem für Freiberufler*innen spielt die Finanzierung ihrer journalistischen Projekte immer eine besonders wichtige Rolle. Welche konstruktiven Möglichkeiten es dafür gibt, darüber wurde im Workshop mit Investigativreporterin Pascale Müller gesprochen. Wie sich konstruktive Erzählformen in den journalistischen Alltag integrieren lassen, konnte Chris Vielhaus von „Perspective Daily“ darlegen.
Geschichten des Gelingens
Aber funktioniert konstruktiver Journalismus in der Praxis? Das diskutierten Steffen Bayer (Plan B/ZDF), Ute Scheub (Netzwerk Klimajournalismus), Chris Vielhaus („Perspective Daily“) und Alexandra Haderlein (Relevanzreporter Nürnberg). Egal ob beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder im Lokaljournalismus: Allen Journalist*innen gemeinsam war das Ziel, den klassischen sieben W-Fragen weitere Fragen bei Recherche und Auswahl von Themen hinzuzufügen: die Frage nach den Aussichten (Wie geht es weiter?), nach Lösungen (Wo geht es besser?) und Handlungsmöglichkeiten (Was können wir tun?) stünden für ihre Inhalte im Vordergrund. Zwar sei es oft auch langweilig, immer nur die Geschichten des Gelingens zu erzählen, findet Ute Scheub, aber das sei auch nicht ihre Auffassung von konstruktivem Journalismus.
Die dju-Bundesvorsitzende Tina Groll bedankte sich in ihrem Schlusswort bei allen Teilnehmenden und machte deutlich, dass guter Journalismus auch nur mit guten Arbeitsbedingungen, mehr Ressourcen und besseren Löhnen zu haben ist. Dafür sei eine solidarische und starke Gewerkschaft unabdingbar. Ihr konstruktiver Vorschlag an die Kolleg*innen, die noch kein ver.di-Mitglied sind: Einfach eintreten.
Humoristisch endete dieser spannende Journalismustag: Auf ihre ganz eigene Art und Weise ermutigte und bestärkte Kabarettistin Idil Baydar die Journalist*innen im Saal, ihre Rolle und Aufgabe als vierte Gewalt energisch und konstruktiv auszuüben, ja und dabei natürlich auch auf ihre mentale Gesundheit zu achten!
Eine ausführliche Berichterstattung über den 35. Journalismustag von ver.di in der nächsten M Print 1/2023
M Der Medienpodcast: Im Gespräch mit Keynote-Speakerin Sham Jaff und weitere Medienpodcasts