Keine Bad News ohne positive Zugabe

35. Journalismustag von ver.di: Fishbowl mit Laura Goudkamp von „Weltspiegel Digital“ (l.) und Hanna Israel von der „Zeit“ (My Country Talks) (Mitte) mit Moderatorin Tina Fritsche von ver.di Hamburg (v.l.n.r.) Foto: Kay Herschelmann

Der diesjährige Journalismustag von ver.di stand unter dem Motto: „Bye bye bad news. Mit Constructive Journalism durch die Krise?“ Über 200 Medienschaffende nahmen am 4. März 2023 an der Konferenz in Berlin teil, berichteten über eigene Erfahrungen und debattierten Konzepte. Expert*innen aus der Praxis erläuterten, wie sich auch bei schwierigen Themen lösungsorientierte Perspektiven finden lassen und warum konstruktiver Journalismus dennoch kein „Wohlfühljournalismus“ ist.

„Wir leben in Zeiten multipler, einander überlagernder Krisen“, sagte ver.di Bundesvorstand Christoph Schmitz, selbst ehemaliger Journalist, zur Begrüßung der Konferenz. Angesichts übermäßiger Präsenz von Corona, Klimawandel oder dem Krieg gegen die Ukraine schien es für den Journalismus in lezter Zeit besonders schwer zu sein, auch andere relevante Themen zu behandeln. „Doch wenn sich angesichts multipler Krisen immer mehr Menschen von Nachrichten abwenden, muss der Journalismus neue Ansätze diskutieren, um die Gesellschaft zu erreichen“, sagte Schmitz. Um im Sinne des demokratischen Auftrags der Medien eine informierte Öffentlichkeit zu fördern, sei konstruktiver Journalismus daher vielversprechend. Denn in der Tat vermeiden es immer mehr Menschen bewusst, Nachrichten zu schauen, zu hören oder zu lesen. Soziale Medien werden für junge Erwachsene bei ihrem Medienkonsum hingegen immer bedeutender. Dennoch die demokratische Debattenkultur zu entwickeln sei die Aufgabe der Medien. Sie sollten dafür ihren journalistischen Handwerkskoffer nutzen und erweitern.

Konstruktiv Geschichten bis zu Ende erzählen

Die freie Journalistin Sham Jaff bei ihrer Keynote Foto: Kay Herschelmann

Sham Jaff schreibt seit 2014 den englischsprachigen Newsletter „what happened last week“, der die wichtigsten Nachrichten und ihre globalen Zusammenhänge erklärt – kurz, leicht verständlich, kritisch und konstruktiv. 2020 wurde sie für ihren Podcast „Wir schaffen das – Wie ein Satz Deutschland veränderte“ für den CIVIS Audio Medienpreis nominiert. Ihr Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ ist mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet worden. Das Thema des Tages sei „eine Einladung, neu über Journalismus nachzudenken und Verantwortung für die Wirkung von Journalismus zu übernehmen“, sagte Sham Jaff in ihrer Keynote. Sie betonte, dass es sich beim konstruktiven Journalismus, neben der Lösungsorientierung, ebenso um Fragen von Themensetzung und Diversity handele. Im M-Medienpodcast berichtet sie ausführlich über die damit verbundenen Haltungsfragen für die Journalist*innen. Gerade den eurozentristischen Blick vieler Beiträge kritisiert Jaff als wenig konstruktiv. Ihr fehle der globale Zusammenhang und die Beschäftigung mit mehr als bloß einem kleinen Teil der Welt. Insbesondere bei der Berichterstattung aus Konfliktgebieten werde oft nur ein Zugang gewählt, etwa es habe Gewalt gegeben. Jedoch werde beispielsweise nicht berichtet, welche Entwicklungen es in der Region gegeben habe, oder gefragt „Was tun die Leute dort, um miteinander ins Gespräch zu kommen?“ „Letztlich bleiben es immer bad news, wenn wir bei einer Geschichte an einem Punkt aufhören, ohne sie zu Ende zu erzählen“, so Sham Jeff.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von SoundCloud. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf den Button unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Nach dem Motto: „Scheiße plus X“

Digital zugeschaltet stellte sich die Buchautorin Ronja von Wurmb-Seibel den Fragen von Manfred Kloiber, Wissenschaftsjournalist beim Deutschlandradio. Wurmb-Seibel arbeitete als Redakteurin im Politik-Ressort der „Zeit“, bevor sie zwei Jahre lang als Reporterin aus Kabul berichtete. Dort war sie mit Themen und Tragödien konfrontiert, die sie auch persönlich schwer belasteten. Ähnlich geht es ebenfalls denen, die die Geschichten von Krieg, Tod und Elend tagtäglich lesen und hören. Die Forschung über Medienkonsum zeigt: Es sind nicht nur die Menschen traumatisiert, die direkt vom Terrorismus betroffen sind, sondern auch jene, die dem Terrorakt durch Nachrichten und Bilder der Gewalt beiwohnen. Zu viele negative Nachrichten lösen Ängste aus und versetzen uns in eine Art Hilfslosigkeit, erklärte Wurmb-Seibel. In ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen. Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien“, beschreibt sie Ansätze, der Hilflosigkeit zu entfliehen. Eine alte Binsenweisheit der Medien ist: „Bad news are good news“ – „schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ weil sie bei den Rezipient*innen höchste Aufmerksamkeit generieren. Das sei zwar nicht falsch. Doch Wurmb-Seibel schlägt einen Perspektivwechsel vor. Für einen Workshop, den die Autorin für Redaktionen konzipierte, brachte sie diesen auf eine einfache Formel. Dinge, die uns belasten, sind „Scheiße“, Ideen, die eine positive Bewegung bringen, heißen „X“. Nach dem Motto „Scheiße plus X“ schlägt Wurmb-Seibel vor, jedem negativen Stück ein solches X hinzuzufügen. Danach gelte es zu suchen.

35. Journalismustag von ver.di: Fishbwol im Foyer des Berliner ver.di-Hauses Foto: Kay Herschelmann

In einer Fishbowl-Diskussion stellten Laura Goudkamp von „Weltspiegel Digital“ und Hanna Israel von der „Zeit“ (My Country Talks) ihre Formate vor und beschrieben, wie sie Menschen zu unterschiedlichsten Themen miteinander ins Gespräch bringen. Unter dem Motto: Brücken bauen: Stärkung der Debattenkultur durch konstruktiven Journalismus, zeigten sie Möglichkeiten, Räume zu schaffen für Menschen, die sonst nicht miteinander reden. Dabei werde, im Sinne der journalistischen Sorgfaltspflicht, darauf geachtet, dass bestimmte rote Linien nicht überschritten würden. Denn es gehe nicht darum, alle Meinungen als gleichwertig nebeneinander zu stellen. Vielmehr wolle man Gesprächsräume eröffnen.

Mögliche Lösungen auch kritisch hinterfragen

Die Studierenden der Abschlussklasse der Deutschen Journalistenschule Jesko Buchs, Benjamin Stolz, Anastasia Trenkler und Jonas Wagner stellten ihren Kurzfilm zum Thema konstruktiver Journalismus vor. Im anschließenden Publikumsgespräch äußerte sich Henriette Löwisch, Leiterin der Deutsche Journalistenschule, kritisch zum Konzept. Den Charme des konstruktiven Journalismus halte sie für gefährlich, weil sich letztlich alle eine Lösung für Probleme wünschten. Aufgabe von Journalismus könne es aber nicht sein, einfache Antworten zu liefern. Sie warnte vor inhaltlichen Verkürzungen. Befürworter*innen hielten dagegen, dass es zu den Qualitätskriterien eines guten konstruktiven Journalismus gehöre, eben nicht überall Positives zu sehen, sondern mögliche Lösungen auch kritisch zu hinterfragen.

Verdi FINAL.mp4 – Google Drive

Praktische Anwendungen

In fünf Workshops konnten sich die Teilnehmenden am Nachmittag austauschen und diskutieren. Sieh`s doch mal anders! meinte Daniel Bax von den Neuen deutsche Medienmacher*innen und beschrieb, wie wir Klischees und gängige Narrative durchbrechen können. Das konstruktive Kontern, war Thema bei Tobias Meilicke von der Beratungsstelle veritas. Aufgezeigt und diskutiert wurde, wie Verschwörungsmythen und Fake News entlarvt und wie ihnen entgegengetreten werden kann. Heike Kleffner vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. erklärte, wie Medienschaffende sich vor Angriffen und Bedrohungen im Netz und auf der Straße schützen können und wo es Unterstützung gebe. Vor allem für Freiberufler*innen spielt die Finanzierung ihrer journalistischen Projekte immer eine besonders wichtige Rolle. Welche konstruktiven Möglichkeiten es dafür gibt, darüber wurde im Workshop mit Investigativreporterin Pascale Müller gesprochen. Wie sich konstruktive Erzählformen in den journalistischen Alltag integrieren lassen, konnte Chris Vielhaus von „Perspective Daily“ darlegen.

Workshop mit Tobias Meilicke, Beratungsstelle veritas. Foto: Kay Herschelmann
Heike Kleffner, Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. im Workshop. Foto: Kay Herschelmann
Alexandra Haderlein (Relevanzreporter Nürnberg), Steffen Bayer (Plan B/ZDF), Moderatorin Miriam Scharlibbe (Chefredakteurin Content Entwicklung Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag), Chris Vielhaus (Perspective Daily) und Ute Scheub (Netzwerk Klimajournalismus) treffen sich auf dem Podium Foto: Kay Herschelmann

Geschichten des Gelingens

Aber funktioniert konstruktiver Journalismus in der Praxis? Das diskutierten Steffen Bayer (Plan B/ZDF), Ute Scheub (Netzwerk Klimajournalismus), Chris Vielhaus („Perspective Daily“) und Alexandra Haderlein (Relevanzreporter Nürnberg). Egal ob beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder im Lokaljournalismus: Allen Journalist*innen gemeinsam war das Ziel, den klassischen sieben W-Fragen weitere Fragen bei Recherche und Auswahl von Themen hinzuzufügen: die Frage nach den Aussichten (Wie geht es weiter?), nach Lösungen (Wo geht es besser?) und Handlungsmöglichkeiten (Was können wir tun?) stünden für ihre Inhalte im Vordergrund. Zwar sei es oft auch langweilig, immer nur die Geschichten des Gelingens zu erzählen, findet Ute Scheub, aber das sei auch nicht ihre Auffassung von konstruktivem Journalismus.

Tina Groll, Bundesvorsitzende der dju in ver.di Foto. Kay Herschelmann

Die dju-Bundesvorsitzende Tina Groll bedankte sich in ihrem Schlusswort bei allen Teilnehmenden und machte deutlich, dass guter Journalismus auch nur mit guten Arbeitsbedingungen, mehr Ressourcen und besseren Löhnen zu haben ist. Dafür sei eine solidarische und starke Gewerkschaft unabdingbar. Ihr konstruktiver Vorschlag an die Kolleg*innen, die noch kein ver.di-Mitglied sind: Einfach eintreten.

Kabarettistin Idil Baydar zeigt, wo es lang geht. Foto: Kay Herschelmann

Humoristisch endete dieser spannende Journalismustag: Auf ihre ganz eigene Art und Weise ermutigte und bestärkte Kabarettistin Idil Baydar die Journalist*innen im Saal, ihre Rolle und Aufgabe als vierte Gewalt energisch und konstruktiv auszuüben, ja und dabei natürlich auch auf ihre mentale Gesundheit zu achten!


Eine ausführliche Berichterstattung über den 35. Journalismustag von ver.di in der nächsten M Print 1/2023 

M Der Medienpodcast: Im Gespräch mit Keynote-Speakerin Sham Jaff und weitere Medienpodcasts 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Mit Recht und Technik gegen Fake News

Als „vielleicht größte Gefahr“ in der digitalen Welt sieht die Landesanstalt für Medien NRW (LFM) die Verbreitung von Desinformationen. Insbesondere gilt das für die Demokratische Willensbildung. Daher wird die Aufsichtsbehörde ihren Scherpunkt im kommenden Jahr genau auf dieses Thema richten. Aber wie kann man der Flut an Fake News und Deep Fakes Herr werden?
mehr »

News-Junkie versus Nachrichtenvermeider

Eine Sonderausstellung im Museum für Kommunikation Berlin gibt Einblicke in die Geschichte der Nachrichten und unser Verhältnis dazu. Nie war es leichter, sich über das Weltgeschehen zu informieren als heute. Nie gab es mehr Medien und Formate, über die wir jederzeit und überall Nachrichten abrufen können. Doch wie können wir uns in diesem Dschungel zurechtfinden? Wie können wir gute Nachrichten produzieren?
mehr »

ver.di-Filmpreis für „Im Prinzip Familie“

„Im Prinzip Familie“ von Daniel Abma ist Gewinner des diesjährigen ver.di-Preises für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness auf dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm DOK.  Der Film erhielt zudem den „film.land.sachsen-Preis“ für Filmkultur im ländlichen Raum sowie den Preis „Gedanken-Aufschluss“, von einer Jury aus Strafgefangenen der Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen. Damit gingen an „Im Prinzip Familie“ die meisten Auszeichnungen bei DOK Leipzig 2024.
mehr »

rbb-Intendantin blockiert Tarifeinigung

ver.di ruft die Beschäftigten des rbb ab dem 30. Oktober 2024 zu einem dreitägigen Warnstreik auf. Grund ist die Weigerung der Intendantin Ulrike Demmer, den seit dem Frühjahr ausgehandelten Beendigungsschutz-Tarifvertrag für freie Beschäftigte im Programm zu unterzeichnen und in Kraft zu setzen. Dabei hat auch der Verwaltungsrat dem Tarifvertrag schon seit Monaten zugestimmt.
mehr »