Kampagnen

Journalistenalltag

Laut Grundgesetz ist die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat. Das ändert sich. Wir Journalistinnen und Journalisten arbeiten an der Systemveränderung mit. Ohne uns wäre sie nicht zu machen.

Ausbildungsförderung, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe, Rente, alles wird gekürzt. Gebühren für öffentliche Dienste, z.B. für einen Volkshochschulkurs, werden dermaßen erhöht, daß bald nur noch die Reichen diese Dienste nutzen können, die ursprünglich für die Armen gedacht waren. Die Steuerbelastung der Armen wächst, die der Reichen schrumpft. Kurz: Der Sozialstaat wird abgebaut. Da Abbau jedoch nicht sein darf, müssen wir ihn anders nennen: „Umbau“. Das ist ein wohltuendes Wort. Es klingt nach Renovieren, duftet nach neuem Holz und frischer Farbe. Ein Täuschungswort.

Daß Abbau gemeint ist, machte Hans-Olaf Henkel, Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie, schon bei seinem Amtsantritt deutlich: Der Sozialstaat sei „nicht mehr finanzierbar“, sagte er, und wir übernahmen die Behauptung, als wäre sie wahr. Es sei kein Geld da, teilen wir nun dem Publikum tagein, tagaus mit – obwohl mehr Geld da ist als je zuvor. Deutschland wird immer reicher. Zwar sind Millionen Privathaushalte und fast alle Kommunen überschuldet, aber die Schulden der einen sind die Zinseinnahmen der anderen. Die Bank-, Versicherungs-, Chemie-, Energie- und andere Konzerne melden Milliardengewinne (und verstecken noch größere). An den Börsen treibt die Spekulation die tollsten Blüten. Die Reichen wissen nicht wohin mit ihrem Geld. Doch wir schreiben so, als würde Deutschland immer ärmer und könnte sich „Wohlstand für alle“ – den Ludwig Erhard proklamierte, als die Produktivkräfte viel schwächer entwickelt waren als heute – nicht mehr leisten. Täuschung.

Wir verbreiten beängstigende Nachrichten über „Explosionen“. Die zunehmend eingeschüchterten Leser, Hörer, Zuschauer erfahren z.B. von explodierenden Lohnkosten, explodierenden Kosten im Gesundheitswesen. Alles Täuschung. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen geht seit langem zurück. Die Kosten im Gesundheitswesen sind trotz teurer und besserer Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, trotz immenser Gewinne der Pharma- und Geräteindustrie nicht schneller gewachsen als das Bruttosozialprodukt. Nur weil die Masseneinkommen zurückbleiben, müssen die Krankenkassen die Beiträge überproportional erhöhen.

Wir beteiligen uns eifrig an der Täuschungskampagne, die seit Jahren unter dem Stichwort „Mißbrauch“ läuft. In der „Bild“-Zeitung wie in Lokalblättern und -sendern prangern wir Empfänger von Sozialhilfe an, die sich unrechtmäßig „bereichert“ hätten. So unterstützen wir Bundessozialminister Norbert Blüm, der sich in solchen Fällen über „Ausbeutung des Sozialstaats“ empört – eine Formulierung, die ihm schwerlich über die Lippen käme, wenn das Verhalten von Kapitalbesitzern gemeint wäre. Mit dieser Kampagne machen wir die Armen zu Schuldigen, während auf der anderen Seite (nach Recherchen des Publizisten Jürgen Roth und des Politologen Hans See) die Reichen durch Steuerhinterziehung, Subventions- und anderen Betrug den Fiskus hundertmal mehr schädigen.

Unentwegt beteiligen wir uns an den Kampagnen, die mit den Täuschungswörtern „Sparen“ und „Standort“ geführt werden. Jede Sozialabbau-Aktion wird als „Sparmaßnahme“ deklariert, als hätte es etwas mit Sparen, mit Zurücklegen von Geld für künftige Anschaffungen oder Sicherheiten zu tun, wenn der gesellschaftliche Reichtum von unten nach oben umverteilt wird. Als Grund dafür, daß die Bedürftigen auf Sozialleistungen, die meisten Lohnabhängigen auf bisherigen Lebensstandard verzichten sollen, geben wir die Sorge um den „Standort“ an (den „Standort“ Deutschland oder Schwaben oder Pasewalk), der durch die Konkurrenz auf dem globalisierten Markt bedroht sei, durch Verzicht jedoch gesichert werden könne. In Wahrheit exportiert Deutschland viel mehr, als es importiert, ist Täter und Nutznießer der Globalisierung, als deren Opfer sich deutsche Konzerne nur unter grober Verdrehung der Tatsachen aufspielen können. Im Bestreben, auf dem Weltmarkt zu expandieren, vernachlässigen Unternehmer und Politiker den Binnenmarkt, schwächen die eigene Basis. Wenn Massenkaufkraft abnimmt, gehen Nachfrage, Produktion und Beschäftigung ebenfalls zurück. Und welche Investition lohnt sich dann noch?

Während also aus sozialen wie volkswirtschaftlichen Gründen die Masseneinkommen steigen müßten, verkünden wir noch immer: „Die Gewinne von heute sind die Arbeitsplätze von morgen.“ Das Gegenteil ist längst erwiesen. Die Überschrift „Conti verdoppelt Gewinn und baut Mitarbeiter ab“, die ich neulich las, könnte über den meisten Firmenberichten stehen. Sobald eine Firma ankündigt, sie werde in großer Zahl Stellen streichen, steigt der Aktienkurs. Wir aber verheißen – wie der Kanzler alljährlich in der Neujahrsansprache – den Rückgang der Arbeitslosigkeit, der gewiß im neuen Jahr einsetzen werde, wenn sich das Volk nur noch ein Weilchen einschränke, um die Reichen reicher werden zu lassen. Wir täuschen.

Der Sozialstaat – wer erinnert sich noch an ihn, wie ihn das Bundesverfassungsgericht einmal definierte – hatte die Aufgabe, sozialen Ausgleich zu schaffen. Er sollte dafür sorgen, daß Güter gerecht verteilt werden und jedermann/jedefrau an Arbeit und Wohlstand, an Bildung, Kultur und Politik teilhaben können. Zu diesem Zweck sollte er die wilden, zerstörerischen Kräfte des Kapitals regulieren, also eindämmen. Wir aber betätigen uns als Propagandisten der Deregulierung, der Befreiung des Kapitals von angeblichen Investitionshindernissen wie Arbeitszeit-, Mitbestimmungs-, Tarifrechts- oder Umweltschutzregelungen.

Die Ungleichheit vergrößert sich. Die Gesellschaft polarisiert sich. Wir arbeiten daran mit, indem wir die Opfer täuschen, einschüchtern, wehrlos machen.

Ist es das, was wir wollen?

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