Kein Ruhmesblatt

Es sind unruhige Zeiten. Krieg, Bürgerkrieg, Terror, individuelle Gewaltakte beherrschen seit Wochen die Schlagzeilen. Brennpunkte und Sondersendungen über dramatische Ereignisse wie die von Nizza, Würzburg, München und Ansbach stürzen in immer kürzeren Abständen auf ein verschrecktes Publikum ein. Keine Frage: In Krisenzeiten ist der Nachrichtenjournalismus besonders gefordert. Die Bürger verlangen – zu Recht – nach korrekter Information und Aufklärung durch die Medien sowie nach entschlossenem Handeln von Politik und staatlicher Exekutive. Gemessen an diesem Anspruch kann den Medien nach der Gewaltwelle im Monat Juli allerdings kein gutes Zeugnis ausgestellt werden.

Gerade die Berichterstattung über den Münchner Amoklauf dürfte nicht als Ruhmesblatt in die jüngere Mediengeschichte eingehen. ARD und ZDF zeigten sich auf unterschiedliche Weise nicht auf der Höhe des Geschehens. Das ZDF brauchte eine Weile, um von Krimi-Konfektionsware und „Sketch History“ auf live zu schalten. Die ARD wiederum, beim Türkei-Putsch wegen später nachrichtlicher Reaktion scharf kritisiert, setzte diesmal auf eine Dauer-Live-Sendung, die von einer frühen Tagesschau nahtlos in die Tagesthemen überging und bis in die Nacht dauerte. Was die Sache allerdings nicht besser machte. Die Crux lag in einer mehr als mageren Nachrichtenlage. Denn weder Jens Riewa, bei dem kaum eine Schalte klappte noch später Thomas Roth konnten über erste Polizeimeldungen hinaus im Laufe des Abends wesentlich Neues mitteilen. Die Quellenlage war unbefriedigend. Das galt vor allem für die eigenen Mitarbeiter. Richard Gutjahr, der die Terror-Attacke in Nizza noch per i-phone und Skype-App ins deutsche Fernsehen gebracht hatte, stand diesmal ebenso wie die anderen Reporter ratlos vor der Polizei-Absperrung. Die Suggestion, dass räumliche Nähe zum Geschehen inhaltliche Relevanz des Berichteten verbürge, funktionierte nicht. Wenn aber Moderatoren verzweifelt versuchen, den Live-Stream mit Leben zu erfüllen, werden die normalerweise üblichen Regeln im Nachrichtenjournalismus ausgehebelt. „Wir wollen ja nicht spekulieren, aber…“ Und so wurde denn kräftig losspekuliert: Terroranschlag? Amoklauf? Islamistischer oder rechtsextremistischer Hintergrund? Oder doch nur ein verwirrter Einzeltäter?

Auch die Qualitätspresse leistete sich derlei Verstöße gegen elementare journalistische Regeln. Von „mindestens drei Männern“ war noch in der Printausgabe des Berliner „Tagesspiegel“ am Samstag nach der Bluttat die Rede. Und „bei den Tätern handele es sich um südländisch aussehende Männer mit automatischen Waffen, hieß es am Abend in Sicherheitskreisen.“ Eine fragwürdige Mischung aus falschen Tatsachenbehauptungen und ungeprüfter Weitergabe von Informationen. Angesichts der Hysterie, die auch vor manchen Nachrichtenredaktionen nicht Halt machte, wurde bekanntlich die sachliche, unaufgeregte Informationspolitik des Münchner Polizeisprechers gelobt. Ein Lob, das bei näherem Hinsehen mit einem Fragezeichen versehen werden muss. Warum ließ der Sprecher eigentlich bis Mitternacht offen, ob der aufgefundene „neunte Tote“ Opfer oder Täter war? Der Amokläufer hatte sich doch vor den Augen der Polizei erschossen. Auch dass es sich bei den beiden schwarz gekleideten, „Langwaffen“ tragenden Männern nicht um Tatbeteiligte, sondern um Zivilpolizisten handelte, war der Staatsmacht sicher früh klar. Will sagen: Auch Polizeiberichte sollten in der Regel kritisch hinterfragt werden.

Problematisch erscheint zunehmend die Rolle von Social Media. Wenn ein bekannter Reporter wie Richard Gutjahr per Facebook live die Todes-Rallye des Nizza-Massenmörders sendet, darf der Empfänger-Redaktion – in diesem Fall war es die ARD – ein verantwortungsvoller Umgang mit dieser Information zugetraut werden. Dass eine Bild-Chefredakteurin kurzzeitig per Twitter drastische Bilder von Opfern verbreitet, wen wundert’s? Aber auch die Täter selbst produzieren immer häufiger Livebilder ihrer eigenen Anschläge, Mordtaten und -pläne. Dabei erscheint der Unterschied zwischen den medienkompatibel inszenierten Attacken auf die Twin Towers vor 15 Jahren und dem Live-Streaming des Polizistenmörders von Paris im Juni dieses Jahres nur graduell. Aber die Ereignisse in München zeigen auch, dass alle, die im Zeichen von Facebook und Twitter bereits von einer neuen Ära des „Bürgerjournalismus“ schwadronierten, gründlich danebenliegen. Social Media, oftmals bedient von nichtprofessionellen Wichtigtuern, muss hier eher als Ärgernis denn als wertvolle Zusatzquelle angesehen werden. In München trugen die über Facebook und Twitter verbreiteten „Informationen“ dazu bei, die Gerüchteküche anzuheizen, eine Millionenstadt in Massenpanik zu versetzen und ein Aufgebot von 2.300 Polizisten zu mobilisieren. Dass sich im Laufe der Nacht das Geschehen als individueller Amoklauf entpuppte, hindert die Protagonisten von law and order nicht daran, gleich im Nachklapp den Inland-Einsatz der Bundeswehr samt dazu nötiger Grundgesetzänderung auf die politische Agenda zu setzen. Leider wurden Bilder, Videos und die damit transportierten Gerüchte aus den sozialen Netzwerken auch von ARD und ZDF aufgegriffen und häufig ungeprüft verbreitet. Was in den Augen und Ohren schlichter gestrickter Zeitgenossen ja schon fast einem amtlichen Gütesiegel seriöser Information gleichkommt. ZDF-Anchorman Claus Kleber bekennt immerhin selbstkritisch: „Es ist niemandem geholfen, wenn die Öffentlich-Rechtlichen sich mit ihren traditionell ausgestrahlten Programmen auf ein Rattenrennen mit Social Media einlassen. Oder Netzfunde unreflektiert weitergeben.“

Ob ein öffentlich-rechtlicher 24-Stunden-Nachrichtenkanal, wie ihn Ulrich Deppendorf neuerdings ins Gespräch gebracht hat, die Lösung wäre? Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage sind derzeit nur 41 Prozent der Bundesbürger dafür. Und von diesen würde nur jeder Dritte dafür auch höhere Rundfunkgebühren in Kauf nehmen. Ein Vorschlag zur Güte: Ehe jeder Amokläufer, Zug-Attentäter und Dschihad-Propagandist mittels Sondersendung und blutrünstiger Schlagzeile zum landauf landab Schrecken verbreitenden Monster aufgeblasen wird – wie wäre es einfach mit einer Rückbesinnung auf einige gute, alte journalistische Tugenden? Etwa den nachrichtlichen Grundsatz „Korrektheit vor Schnelligkeit (vor Schönheit)“. Oder die gründliche Prüfung von Sachverhalten, die eigene Recherche, die Quellenkritik, die Gewichtung von Ereignissen, den Verzicht auf Live-Bilder, wenn es nichts Substantielles zu berichten gibt? Damit wäre schon viel gewonnen.

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