Knipsen, Texten, Kinderkriegen

Journalismus als Lebensform: Die Agentur Zeitenspiegel

Das Telefon steht neben dem Salat, beim Reistopf liegt ein Handy: Mittagspause bei Zeitenspiegel. Nach und nach versammeln sich alle um den großen Tisch in der offenen Büroküche, neben der Wand mit der Weltkarte und dem Archivregal mit hunderten von Fotos in schwarz-gelben Kartons.

Gelächter, Gemampfe, Gespräche. Einer berichtet, daß grade sein geliebter Golf 16-jährig in die Schrottpresse kam. Ein anderer, der demnächst zu Recherchen aufbricht, wird gefragt: „Wann fahrt Ihr jetzt eigentlich nach Mexiko?“

Private Kümmernisse und berufliche Projekte, alles kann zum Thema werden in der Runde. Es hat etwas von einer Wohngemeinschaft: Auf der Mikrowelle stehen Apfelsaft und eine Flasche Trollinger, 1998er Großheppacher Wanne; unterm Fenster ein Plastikeimer mit Deckel und der Aufschrift „Windeln“.

Die Agentur „Zeitenspiegel“ gilt in der Branche als einzigartiges Projekt. Sie bildet ein weltweites Netzwerk mit Textern und Fotografen in Kuba, Chile, den USA, in Paris, Neapel und Bielefeld. Sie hat mit 1,4 Millionen Mark Jahresumsatz eine respektable Größe, beliefert die großen Magazine der Republik und darüber hinaus.

Und sie ist auch ein bisschen umstritten: Einerseits ist sie, für die Zeitenspiegler selbst und ihre Fans und Freunde in den Redaktionen der großen Magazine, ein Modell gemeinsamen und engagierten Arbeitens für eine bessere Welt. Für Gegner und Neider aber, vor allem für ausgestiegene Zeitenspiegler, ist sie eher ein Hort verkappten Patriarchentums und schlechtbezahlter Fronarbeit.

In den Büroräumen in einem Glas-Stahl-Rundbau im Remstal-Weinort Endersbach herrscht eine Atmosphäre entspannter Geschäftigkeit. Drei Wanduhren zeugen von Weltläufigkeit: Santiago, Endersbach, New York. Telefone klingeln, Rufe hallen durchs Büro: „Heike, ich hab‘ Herrn Huber von Focus Money für dich dran.“ Auf den Tischen liegen die Belege des Zeitenspiegel-Schaffens: „Marie Claire“, „Stern“, „Spiegel“. Ein Lufthansa-Magazin, ein Air-France- Magazin. Der renommierte „New Yorker“, das Schweizer Magazin „Facts“. Auch bunte Blätter mit schönen Bildern: „Merian“, „Der Feinschmecker“. Ein Verlag aber fehlt: „Die Springer-Presse, die steht bei uns immer noch auf dem Index“, sagt Uli Reinhardt, 52, der Zeitenspiegel-Mitbegründer.


Am Fenster: ein Stahlhelm,Aufschrift: „UNPROFOR“, und „Working for Peace“. Ein Relikt, ja eine Reliquie aus Jugoslawien. „Gabriel Grüner hat den aufgehabt“, sagt Uli Reinhardt. Grüner war „Stern“-Reporter, und wurde am 13. Juni 1999 im Kosovo ermordet. Reinhardt war damals, zusammen mit der Zeitenspiegel-Autorin Ingrid Eißele, auch dort, ebenfalls für den „Stern“.

Gabriel Grüner hatte mit seinem Team den Ort Prizren verlassen, eine Viertelstunde, bevor das Zeitenspiegel-Team ankam. „Wenn wir die ersten gewesen wären, wären wir den Weg gefahren, den die gefahren sind“, sagt Uli Reinhardt. „Der Gabriel war mein bester Freund. Ich war oft mit dem unterwegs, in Bosnien, in Kroatien, in Afghanistan. Ich bin 52, und der Gabriel war 35. Ich hab‘ mir nie vorstellen können, dass der vor mir stirbt.“

Gabriel Günter war auch Mitglied in der Jury des Journalistenpreises, den Zeitenspiegel gestiftet hat, den Hansel-Mieth-Preis (siehe Seiten 29/30, 40/41). Und nach seinem Tod haben sie zusätzlich ein Stipendium nach ihm benannt, mit dem junge, engagierte Journalisten gefördert werden sollen.

„Man hat ja auch eine gewisse gesellschaftliche Aufgabe als Journalist.“ Darauf beharrt Reinhardt, auch wenn dies in Zeiten multimedialer Zerstreuungsproduktion zunehmend schwieriger wird. „Engagierte Geschichten, in denen man sich für etwas einsetzt, die haben es ja immer schwerer. Da sagen die in den Redaktionen, ooch, nicht schon wieder so eine Not-und-Elend-Geschichte.“

Minderjährige Mütter in Großbritannien: Das war ein Preisthema für das Gabriel-Grüner-Stipendium.


Daneben gibt es aber aus Zeitenspiegel-Produktion auch Geschichten über Zigarren im Hochglanzfachblatt „Cigar“. Oder, als Auftragsarbeit, ein Buch über debis, die ultimative Lobhudelei zum zehnjährigen Jubiläum von Daimlers Dienstleistungstochter.

Wer schreibt fürs debis-Buch die Beiträge? Das wird in der „Schreiberbesprechung“ geklärt. Fünf Autoren diskutieren die Textproduktion der nächsten Wochen. „Hier ist noch was zu Flow-Tex“, die Millionenbetrügerei aus Baden. Welches Blatt könnte sich für das Thema interessieren?

Recherchiert ist die Sache mit dem irakischen Schiff, das seit zehn Jahren einsam in einem deutschen Hafen liegt, embargohalber. „Find ich ganz wichtig“, sagt der Autor. Skeptische Gegenfrage: „Für den Stern?“

Das Hamburger Magazin ist mit fünfstelligem monatlichem Honoraraufkommen eine der wichtigsten Umsatzstützen der Agentur. Eine Glastür mit „Stern“-Logo führt in das Büro von Ingrid Eißele, 38, die im Impressum des Blattes als Baden-Württemberg-Korrespondentin firmiert. Eines der beiden Telefone auf ihrem Schreibtisch ist für „Stern“-Gespräche reserviert.

Ein Stahlregal, eine Couch, ein rückenschonender Sitzball: eigentlich eine anspruchslose Statthalterei für das reiche Blatt aus der Hansestadt. Ingrid Eißele wird in der Zeitenspiegel-Familie als ebenso bienenfleißig wie bescheiden gerühmt. Sogar der bunte Kindersitz sei „geliehen“, sagt sie sogleich, das zugehörige Kind immerhin ein „eigenes“: Hannah Marie, im Februar geboren, Tochter von ihr und Uli Reinhardt und jüngster Beweis dafür, wie harmonisch sich bei Zeitenspieglern Berufliches und Privates fügen.


Dabei gibt es durchaus unterschiedliche Formenvon Nähe und Distanz in der Zeitenspiegelei. Am Leuchttisch sitzt Deniz Saylan, 29, über Bilder gebeugt. „Ich bin hier der Quotenausländer“, grinst Saylan: Vater Türke, Mutter Österreicherin. Er ist „Freier“, ebenso wie Textautor Wolfgang Bauer, 29, mit dem er gerade die Bilder diskutiert: Sie benutzen die Agentur als Agentur, teilen mit Zeitenspiegel die Einkünfte hälftig und dürfen dafür Büro und Ausstattung nutzen.

Uschi Entenmann, 37, hingegen zählt zu denen, deren Umsätze – mit Ausnahme privater Nebengeschäfte – voll in die Zeitenspiegel-Kasse fließen. Dafür bekommt sie ein festes monatliches Honorar als Minimum. „Für mich ist das ein großer Vorteil, dieses Modell“, sagt sie: „Das fing an, als ich nach Havanna ging. Da kam zwei, drei Monate kein Honorar rein. Und ich hab‘ trotzdem mein Geld bekommen.“

Auch als sie, zurück im Schwäbischen, ihr erstes Kind bekam, das jetzt, wie das Zweitgeborene auch, im Zeitenspiegel-Kindergarten betreut wird, profitierte sie vom Zeitenspiegel-System: „Ich hab‘ einfach so viel gearbeitet wie ich konnte, und hab‘ das Minimum bekommen, 4000 Mark Honorar.“ Nur wer mehr braucht, etwa weil er mehr Kinder hat, kriegt auch mehr. „Das ist so ein bisschen das Hutterer-Prinzip.“

Das Hutterer-Prinzip: Davon reden sie hier oft. Die Hutterer sind eine alte Glaubensgemeinschaft, benannt nach dem 1536 in Innsbruck auf dem Scheiterhaufen verbrannten Wiedertäufer Jakob Hutter. „Jeder gibt, was er kann, und kriegt, was er braucht“, das ist das Prinzip der eigentumslosen Gemeinschaft, die heute vor allem in Amerika lebt und auch im Remstal ihre Wurzeln hat. Zeitenspiegels Heimat.


Vor allem zu Beginn einer Karriere kann das Kollektiv helfen. Die Fotografin Andrea Altemüller, 35, ist gekommen, um ihre Bilder aus Brasilien zu präsentieren. Im Vorführraum ist es dunkel, sie zeigt Dias von Kindern, Pferden, Kühen: Das Projekt eines Brasilianers, der Straßenkinder adoptiert, um ihnen Ausbildung und Zukunftshoffnung zu geben.

„Und warum macht der das?“ fragt irgendwann Uli Reinhardt.

„Er hat einfach ein großes Herz“, sagt die Fotografin.

„Aber was hat der davon? Der verdient doch nichts. Der macht das aus rein humanitären Gründen?“ Bei aller Wertschätzung fürs Hutterer-Prinzip: Uli Reinhardt mag es kaum glauben, dass irgendwo die reine Nächstenliebe waltet. Doch das Gemeinschaftsprinzip muss nicht zwingend in lautere Selbstlosigkeit münden.

Auch Zeitenspiegel-Mitbegründer Reinhardt, der als Solist oder gar als Ausbeuter subalterner Angestellter durchaus mehr verdienen könnte als im Kollektiv, profitiert davon. „Ich denke, dass eine Gemeinschaft viel stärker ist als der Einzelkämpfer. Der Einzelkämpfer hat auch mal Durchhänger. Oder ein Magazin sagt irgendwann: Jetzt haben wir genug Reinhardt-Bilder gesehen. Das kann bei mir die Gemeinschaft auffangen.“

Reinhardt hat in dieser Gemeinschaft von 28 Fotografen und Textautoren allerdings einen gewissen Sonderstatus: Er ist der virtuelle Chef, gewissermaßen der Joschka Fischer des Zeitenspiegels.

Formal ist er auch der Eigentümer des Betriebes, auch wenn er unter den Mitgliedern keine herausgehobenen Rechte genießt, ja nicht einmal in der dreiköpfigen Geschäftsführung ist und auch nicht der Spitzenverdiener in der Firma.

Doch gerade diese Sonderstellung bemängeln die Kritiker. „Wenn Uli sagt, das läuft so, dann läuft das so. Das ist eine Alleinregentschaft von Uli im Zusammenwirken mit einigen Leuten. Aus Gewerkschaftssicht betrachtet eigentlich ein Unding“, sagt einer der Zeitenspiegel-Abtrünnigen.

Aus Gewerkschafters Warte ist Zeitenspiegel wohl nicht die ideale Wirkungsstätte. Es gibt nur fünf Mitarbeiter mit echten Arbeitsverträgen: Heike Fänder, 35 und Susanne Söhling, 34, die für Organisation und Verkauf zuständig sind, außerdem Volontär Tilman Wörtz, 27, Reinhardt-Sohn Patrick, 23, ebenfalls Volontär, sowie sein Bruder, Computerexperte Oliver, 26.

Die übrigen arbeiten auf Honorarbasis und mit individuellen Vereinbarungen. „Die arbeiten da alle im rechtsfreien Raum. Das ist ja eine Art Lebensgemeinschaft.“ Was der Aussteiger kritisiert, ist für die aktiven Agenturgenossen eher ein Pluspunkt, wie es scheint. Schwer zu sagen auch, ob es der subtile Druck des Kollektivs ist, der nach Kritikerbefund zur gemeinschaftlichen Einnahme von Mahlzeiten führt, oder eher die Anziehungskraft des dampfenden Topfes.

Es schmeckt ja auch prima, das Schweinefilet, das wie immer von „Oma Else“ gekocht und bei Tisch gelobt worden ist. „Oma Else kann wunderbar kochen.“

Oma Else ist Uli Reinhardts Mutter, und was sie kocht, ist nicht nur gut, sondern auch billig. Und das ist im schwäbischen Remstal nicht ganz unwesentlich, zumal bei Gehaltsgestaltung nach dem Hutterer-Prinzip.


  • Eine Reportage von Hans-Ulrich Grimm (Text) und Jo E. Röttgers (Fotos)

 

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