Kromschroedera

Für die verdeckte Recherche, die Rollenreportage hat die schwedische Sprache ein Wort: das Verb „wallraffa“. Natürlich abgeleitet von Günter Wallraff, der landauf, landab als der Under-cover-Rechercheur bekannt geworden ist. Doch Wallraff ist nicht der Erfinder dieses journalistischen Genres. Drei Jahre bevor sein wohl berühmtestes Buch „Ganz unten“ erschien, wurde bereits die Reportage „Als ich ein Türke war“ des Stern-Autors Gerhard Kromschröder gedruckt.


Muss also das schwedische Wörterbuch völlig neu geschrieben werden, muss es heißen „kromschroedera“? Weit gefehlt. Kromschröder: „Wir kennen uns ja aus gemeinsamen Zeiten als festangestellte Pardon-Redakteure. Günter veröffentlichte da seine erste Zeitschriften-Reportage – als Obdachloser in einem Nachtasyl. Auch andere aus der Redaktion bedienten sich der Rollenreportage: Alice Schwarzer arbeitete unerkannt als Rekordarbeiterin am Fließband, Eckard Henscheid ging unerkannt ins Kloster, Wilhelm Genazino ließ sich zum Vertreter einer windigen Vermögensberatungsfirma ausbilden. Und ich reüssierte mit meinen ersten Rollen als Neonazi. Keiner hat dem anderen je vorgehalten, er kupfere ab.“
In einem kleinen Bändchen (Gerhard Kromschröder, Ach, der Journalismus – Glanz und Elend eines Berufstandes, Picus Verlag Wien, € 14.90) sind eine Auswahl seiner Reportagen nachzulesen: Kromschröder als Rocker, Neonazi, Holigan oder Skinhead, „Kromo“ als beichtender SPD-Wähler in katholischen Kirchen, als Müllkutscher auf Giftmülldeponien, als indischer Asylant mit Vollbart und Turban oder eben als Türke der Frankfurter Stadtreinigung.
Doch diese Reportagen dienen nur als Beispiel, als Illustration für den ersten, den inhaltlich wohl bedeutenderen Teil des Buches: Hier wird seine Vorlesungsreihe vor angehenden Journalisten an der Universität Wien im Rahmen der Theodor-Herzl-Dozentur dokumentiert. An seinem beruflichen Werdegang (Lokalredakteur bei der ostfriesischen Ems-Zeitung, dann bei pardon und später dem Stern) zeichnet er Glanz und Elend, Leid und Lust, Anfälligkeit und Abhängigkeit des Journalismus und der Journalisten auf. Es sind keine selbstgefälligen Erinnerungen eines pensionierten Schreiberlings, sondern ein eindringliches Plädoyer eines engagierten Kollegen, sich nie und nimmer mit denen, über die berichtet wird, gemein zu machen.

 
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