Sichtwechsel: Debatte um Medienkompetenz und Menschenwürde heute brisanter denn je
In einem „Wellental“ befinde sich die wissenschaftliche Debatte um Medienethik und Medienkompetenz gegenwärtig. Damit das nicht für die gesellschaftliche Debatte gleichermaßen gilt, lud der Verein Sichtwechsel e. V. für gewaltfreie Medien am 29. Oktober ins Berliner Kino „Arsenal“.
Sichtwechsel e.V.
Der Verein Sichtwechsel sitzt in Berlin und arbeitet seit 1995 mit Mitgliedern und Interessenten daran, die Öffentlichkeit für eine Veränderung des Medienangebots zu sensibilisieren. Er tritt vehement gegen die gehäufte Darstellung von Gewalt in den Medien auf. Gemeinsam mit anderen ehrenamtlichen Initiativen will Sichtwechsel erreichen, dass die Etablierung gewaltfreier Fernsehprogramme diskutiert und gefördert sowie ein bewußterer Umgang mit visuellen Medien alltäglich wird. Die anonyme Einschaltquotenmessung soll in eine autorisierte umgewandelt werden. www.sichtwechsel.de
Das Thema „Medienkompetenz und Menschenwürde – Diskurs zur Filmästhetik in der Medienerziehung“ scheint vor dem Hintergrund neuer „Sendeformate“ im Fernsehen, diverser Talkshow-, Big-Brother- und Dschungelcamperfahrungen brisanter denn je.
Zur Frage, ob der unantastbare Wert Menschenwürde der Kunstfreiheit Grenzen setzen könne, referierte zunächst der Verfassungsrechtler Prof. Dr. Dieter Dörr. Es drohe die Gefahr, dass Menschen in und durch solche Sendungen, aber auch durch Computerspiele, „zum bloßen Objekt“ von Geldgier, Voyeurismus und niedrigen Instinkten degradiert würden. Dennoch, so konstatierte er, komme es praktisch nur sehr selten zu einer medialen Verletzung von Menschenrechten. Sofern es sich bei den Teilnehmern solcher Sendeformate nicht um Minderjährige handele, die vor Bloßstellung geschützt werden müssten, stehe das Selbstbestimmungsrecht des Individuums einem Verstoß entgegen. Anderes gelte hinsichtlich der Zuschauer – wo das bloße Argument des Jederzeit-Ausschalten-Könnens nicht überzeuge. Menschenwürde müsse zudem als objektiver Wert beachtet werden. Vorstellungen, wann „Menschenwürde verletzt wird, entwickeln und ändern sich“ in der Gesellschaft, führte Dörr aus. Klare Grenzen zu finden, erfordere die Würdigung der „Gesamtumstände“. Zweifellos sei es auch Aufgabe von Film und Medien – speziell der öffentlich-rechtlichen Anstalten – „Grundwerte positiv zu transportieren“ und zur Konsensbildung beizutragen. Die Gefahr, dass die Gesellschaft den Konsens über die Grundwerte verliere, sei allerdings real.
Sich in einer „komplexen, zunehmend medial vermittelten Welt zurechtzufinden“, erfordere die entsprechende Kompetenz, bekräftigte Heinrich Bleicher-Nagelsmann, ver.di-Medienpolitker, in seiner Funktion als Vizepräsident des Deutschen Kulturrates. Er betrachtete die Wechselbeziehungen von Filmkunst und Wirklichkeit. Von der Aussage des tschechischen Philosophen Karel Kosik, dass jedes künstlerische Werk sowohl Ausdruck der Wirklichkeit sei als auch die Wirklichkeit bilde, leitete Bleicher-Nagelsmann zu der These über, dass der Künstler nicht nur das Werk selbst planen müsse, sondern auch die Wirkung, die es auf andere habe. Ob diese Wirkung tatsächlich einsetze, hänge davon ab, wie die Zuschauer das Gesehene „in ihrem Wertesystem verorten“. Jede „Aneignung“ sei abhängig von Wissen und Erfahrungen der Rezipienten und den spezifischen sozialen Bedingungen. Darauf, „welche Lesarten des Films dominant werden“, nähmen viele Faktoren Einfluss, von der Ethik der Filmschaffenden über ihr handwerklich-technisches Können, die Filmkritik bis hin zu Kenntnissen der Zuschauer, wie Filme produziert, finanziert und verbreitet werden, und ihrer Fähigkeit, Aussagen des Films zum eigenen und gesellschaftlichen Wertesystem in Bezug zu setzen sowie autonom und kreativ zu handeln.
In einem Diskurs hatte Bleicher-Nagelsmann zur Unzulänglichkeit der Quote als Programmbewertungskriterium Stellung bezogen. Teilnehmer der Diskussion bezeichneten die Quotenmessungen gar als „unmoralisch und verfassungswidrig“. Sie beschere „keine Vielfalt, sondern Einfalt“. Gegen die „subtilen, nachhaltigen und unterschwelligen Einflüsse der Medien auf die Seele von Kindern“ machte eine Elternvertreterin mobil. Mängel in der Medienerziehung räumte der Medienreferent des Berliner Schulsenators ein. Um Selbstbestimmung bei Kindern und Jugendlichen auszubilden, müsse man zunächst „richtig Geld anfassen – von der Lehrerausbildung bis zur Bereitstellung von Hardware in der Schulpraxis“.