Medien-Blackout

Bundestagsdebatte über Kolonialverbrechen verschwiegen

Deutsche Medien scheinen die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte, insbesondere des deutschen Völkermords an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika, nicht für relevant zu halten. Dieser Eindruck drängt sich auf, angesichts der ausgebliebenen Berichterstattung über eine Bundestagsdebatte am 13. Juni 2007 zu diesem Thema.

Dieses Ausblenden ist umso erstaunlicher, als der Bundestag zum ersten Mal seit seiner Gründung über die Forderung beriet, für den – 2004 erstmals von einem deutschen Regierungsmitglied eingeräumten – Völkermord materielle Wiedergutmachung zu leisten. In keiner einzigen größeren Zeitung, selbst in überregionalen Blättern wie FAZ, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und Welt, die einen etwas höheren Anspruch für sich reklamieren, war über die Debatte zu lesen. Auch in der gelegentlich gegen den Strich bürstenden taz fand sich nichts. Im Gegensatz zu anderen war die taz-Chefredakteurin nicht einmal bereit, auf Fragen dazu zu antworten. Die einzige Zeitung, die überhaupt über die Debatte berichtete, war die „junge Welt“.
Im Oktober 1904 hatte General Lothar von Trotha, der Oberkommandeur im damaligen Deutsch-Südwestafrika, nach einem Aufstand der Herero seinen berüchtigten „Schießbefehl“ erlassen. Darin heißt es: „Das Volk der Herero muss das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, werde ich es mit dem groot Rohr (Geschütz, R.H.H.) dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.“ Von Trotha war der Überzeugung, dass die Herero-Nation „als solche vernichtet werden muss“. Mit Unterstützung des Generalstabs und der kaiserlichen Regierung „gelang“ ihm das weitgehend: Fast 80 Prozent der Herero und über 50 Prozent der Nama überlebten den Vernichtungskrieg der deutschen Schutztruppen nicht.
Eine freie Presse soll kontroverse Argumente darstellen und damit den Bürgern die Möglichkeit geben, sich selbst eine Meinung zu bilden. Das jedenfalls war die Absicht der Väter und Mütter des Grundgesetzes. Im Fall der Völkermorddebatte vom Juni blieb davon kaum etwas übrig. Mit den fatalen Auswirkungen minderwertiger Presseberichterstattung auf die demokratische Substanz einer Gesellschaft hat sich unlängst der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas (Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 16. Mai 2007) beschäftigt. Angesichts bedrohlicher Entwicklungen auf dem deutschen Pressemarkt, deren Auswirkungen laut Habermas die politische Öffentlichkeit „im Mark“ treffen könnten, müsse neu über eine öffentliche Förderung der „Qualitätspresse“ nachgedacht werden. Steuergelder also für die Süddeutsche und die FAZ, damit sie ihre Qualität bewahren?
Geht man den Gründen für die ausgebliebene Berichterstattung nach, so ist von Belang, dass die Diskussion erst abends um 19.30 Uhr begann. Wolfgang Krach, stellvertretender Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, meint, solche späten Debatten hätten es „grundsätzlich schwer, tags darauf den Weg in die Zeitungen zu schaffen – egal um welches Thema es geht“. Da beginnt die Fragwürdigkeit schon: Darf der Informationsanspruch der Öffentlichkeit daran scheitern, dass ein Bundestagsgremium ein Thema – möglicherweise sogar bewusst – zu einem Zeitpunkt behandelt, der für Zeitungen ungünstig liegt?
Wenn Redaktionen eine Nachricht jedoch als wirklich relevant bewerten, dann findet diese auch trotz ungünstiger Zeit ihren Weg ins Blatt, dafür gibt es zahllose Belege. Entweder wird die Nachricht noch in einen Teil der Auflage nachgeschoben, oder sie erscheint in der darauffolgenden Ausgabe.
Wesentlich im Falle des „Blackout“ bei der Völkermorddebatte dürfte die Tatsache gewesen sein, dass dpa, die größte deutsche Presseagentur, und auch keine konkurrierende Agentur einen Bericht lieferten. Mittlere und kleinere Zeitungen erfuhren so überhaupt nicht davon. SZ-Redakteur Krach betont die Bedeutung der Agenturen: „Hätte dpa an jenem Abend noch eine Meldung geschickt, hätten wir sie möglicherweise für die Spätausgabe eingewechselt“.

Versäumnis der Agenturen

Noch klarer fällt die Wertung von Jürgen Reents, Chefredakteur des Neuen Deutschland aus: „Dass dpa keine Meldung angeboten hat, ist aus meiner Sicht ein Versäumnis. Viele Zeitungen – wie unsere – können nicht alle Termine mit eigenen Berichterstattern besetzen und sind auf Zulieferungen von Agenturen angewiesen.“ Zumindest seiner zweiten Feststellung dürften die meisten deutschen Chefredakteure, unabhängig ihrer politischen Couleur, zustimmen. Fairerweise muss erwähnt werden, dass das ND am Morgen des 13.6. immerhin einen sechsspaltigen Artikel auf der Seite 3 zum Völkermord placierte. Als weitere Zeitung veröffentlichte die Süddeutsche am gleichen Tag einen zweispaltigen Hintergrundbericht, die Debatte selbst und den sie auslösenden Antrag überging sie ebenfalls.
Die Deutsche Presseagentur (Werbung auf der Homepage: „dpa steht für unabhängige, zuverlässige, aktuelle und umfassende Nachrichten – und das 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr“) kann indes in ihrer Auslassung keinerlei Versäumnis sehen. Auf die Frage an die Chefredaktion, welche Gründe für das Ausbleiben eines dpa-Berichts maßgebend waren, antwortete der Leiter des Berliner Bundesbüros, Martin Bialecki, in dessen Büro 15 dpa-Korrespondenten und dazu gelegentlich freie Mitarbeiter tätig sind, kurz und trocken: „Auch die größte deutsche Nachrichtenagentur muss ihre Ressourcen planen. Die Einordnung‚ ‚fehlende Berichterstattung’ teile ich nicht.“ Und er merkt gegenüber dem Fragesteller dann noch süffisant an: „Trauen Sie den größeren Tageszeitungen in Deutschland denn nicht zu, ein Thema grundsätzlich auch ohne dpa covern zu können? Was wäre das für ein Verständnis von der Freiheit unserer Kunden?“
Erheblich anders sieht das Professorin Barbara Thomaß, die das Medienwissenschaftliche Institut der Universität Bochum leitet. Ihrer Ansicht nach ist es „ein problematisches Versäumnis, dass dpa als wichtigste deutsche Nachrichtenagentur nicht über die Debatte zur möglichen Wiedergutmachung im Hinblick auf den Völkermord an den Herero und Nama berichtet hat.“ Die Arbeitsbedingungen in Tageszeitungen erlaubten es vielfach nicht, Bundestagsdebatten durch eigene Journalisten zu begleiten, deshalb sei die Bedeutung der Nachrichtenagentur „nicht zu unterschätzen“. Die Wissenschaftlerin weist zudem darauf hin, dass die deutschen Medien im Falle anderer Nationen über die Frage der Wiedergutmachung für das Begehen eines Völkermordes „zu Recht lebhaft berichtet“ hätten. „Dies sollte im Hinblick auf die eigene Geschichte nicht anders gehandhabt werden.“

 

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