Neue Wut gegen Lobhimmelei

„Bilder des sozialen Wandels“ bei Mainzer Tagen der Fernsehkritik

Die Rolle der Medien sollte darin bestehen, zu informieren, zu artikulieren, zu kritisieren und zu kontrollieren, vor allem aber gesellschaftliche und politische Missstände transparent zu machen – eine Selbstverständlichkeit? Keineswegs, bei den 38. Tagen der Mainzer Fernsehkritik unter dem Titel „Bilder des sozialen Wandels“ Ende April wurden Grundsätze der Presseethik forsch zur Disposition gestellt. Einzig der unverstellte Blick eines unabhängigen Dokumentarfilmers zeigte Alternativen auf.

Deutlich wurde in Mainz: Politiker betrachten den Journalismus längst wohlwollend als affirmative Wegbereiter und Erfüllungsgehilfen. Zum Beispiel die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth äußerte sich in Mainz überaus zufrieden mit „den Wegbegleitern“ von der lokalen Presse. Sichtlich ungern ließ sie sich hingegen von dem kritischen Zeitgenossen und Vorsitzenden eines Mieterbündnisses, Ralf Harth, aus dem Publikum zu ihrer von diesem als unsozial kritisierten Wohnungspolitik befragen. Da wurde geschickt abbogen. Für Debatten mit Bürgern reicht die Zeit nicht. Man bleibt lieber unter sich, auf prominent besetzten Podien.

Mit Politikern in einem Boot

Auch bei Fernsehjournalisten scheint dieses Modell bisweilen auf Gegenliebe zu stoßen. Man begibt sich gern ins Boot mit derzeit regierenden Politikern. Wen wundert also, dass Bürgerinnen und Bürger sich nicht mehr gern im Fernsehen interviewen lassen, wie Dirk Bergmann, zeitweilig Moderator des ARD-Wirtschaftsmagazins Plusminus, freimütig einräumte. Weil sie sich, etwa mitleidheischend als Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose dargestellt, vor Verwandten und Bekannten schämen müssten. Ist dies nicht zu verändern? Nein, so war zu erfahren. Anders als in Dokumentarfilmen sei es im Genre des Magazinbeitrags nicht möglich, jene Minoritäten, die in Zeiten sozialen Umbruchs am Rand der Gesellschaft stehen, als politisch handelnde, denkende und argumentierende Subjekte in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu stellen. Dies sei durchs Format vorgegeben. Bedenkliche Entwicklungen? Dem fachkompetenten Publikum in der ZDF-Sendeanstalt, hauptsächlich bestehend aus Medienwissenschaftlern, Journalisten und Fernsehkritikern, mochte es wohl so erscheinen. Allerdings gab es kaum Diskussionen im Plenum, in denen solche Eindrücke hätten geäußert werden können. Der Grund: Zeitknappheit. Demokratie scheitert also an Formaten und Zeitknappheit, so die Lehre.

Heutzutage ist alles besser

Zu Wort kam indes Gesine Schwan, 2004 Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin. Und die beförderte medienkritische Betrachtungen des Kulturkritikers Günther Anders, der dem Fernsehen einst vorwarf, Verbiederung mit leicht verdaulichen Häppchen vorzunehmen, kurzerhand auf den Müllhaufen der Geschichte. Heutzutage sei alles anders. Besser, so deren optimistische Wahrnehmung. Das Fernsehen nehme eine Rolle ein als „generalisierter Vertrauensunternehmer“. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk „mit seiner auf der Leitungsebene installierten pluralen Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen“ habe sich als „Bollwerk gegen Qualitätsverfall und manipulative Eingriffe von außen“ erwiesen, schlussfolgerte sie enthusiastisch. Nicht nur Politiker, selbst Fernsehkritiker wie Stefan Niggemeier, Klaudia Brunst und Barbara Sichtermann seien dem Fernsehen erstaunlich positiv gesonnen, wie Dietrich Leder, Professor an der Kunsthochschule für Medien Köln, sarkastisch anmerkte. Wurde doch mal etwas kritisiert, so war es „der Hang zum Negativismus“.

Doch die Eitel-Sonnenschein-Debatte, das ermüdende Szenario gegenseitiger Lobhimmelei und Selbstbestätigung, wurde brüsk durchbrochen. So dass die Mainzer Tage der Fernsehkritik schließlich doch noch ihren Namen verdienten. Eingeladen war nämlich ein freier Dokumentarfilmer, der mit seinem Film bewies, dass gesellschaftliche Realität im öffentlich-rechtlichen Rundfunk keineswegs verantwortungsvoll wieder gespiegelt wird. Schwung in die Debatte brachte somit ausgerechnet ein Fernsehjournalist, der seine politisch brisanten Filme derzeit im Internet vermarkten muss. Weil es ihm an einem Senderauftrag mangelt. Der renommierte Dokumentarfilmer Martin Keßler, einst mit Themen wie „Milde Gaben statt Sozialstaat“ oder „Billigjobs für Millionen“ im ZDF vertreten, zeigte Ausschnitte seines aktuell produzierten Films „Neue Wut“. Er hatte erstellt, was im öffentlich-rechtlichen Fernsehen offenbar nicht gewollt ist: Ein bewegendes Zeitdokument über den sozialen Abstieg einer Bankangestellten zur Ein-Euro-Jobberin – hier einmal nicht als bemitleidenswertes Opfer der Verhältnisse geschildert, sondern als politische Persönlichkeit ernst genommen. Keßler schildert in seiner Langzeitbetrachtung den persönlichen und politischen Alltag von Demonstranten gegen Agenda 2010 und Hartz IV. „Neue Wut“ zeigt zudem, dass Politiker wie Schröder und Müntefering – Kapitalismuskritik hin oder her – der Kritik von Journalisten offenbar gänzlich entwöhnt sind. Interviewer wie Keßler werden, das wird im Film sichtbar, durch harsche Nichtbeachtung abgestraft. Bezeichnend die Einschätzung des DGB-Chefs Michael Sommers zur Hartz-Berichterstattung in der Dokumentation: Der Bundesregierung sei es gelungen, „die Presseberichterstattung zu drehen“.

Fragliche Hartz-Thesen

Keßler erntete für seinen Film von der auf dem Lerchenberg versammelten Fachwelt tosenden Applaus. Im ZDF blieb man jedoch die Antwort schuldig, weshalb der Dokumentarfilm nicht im Sender läuft. Wohl aufgrund der Zeitknappheit. Oder wegen des Formats? Immerhin gab es im Anschluss eine interessante Auseinandersetzung der ZDF-Moderatorin Marietta Slomka mit Peter Hartz. Die von Reformgeschädigten im Film abgebildeten bitteren Lebensrealitäten kommentierte Hartz so: „Die Mitglieder des Vermittlungsausschusses, die dieses Gesetz verabschiedet haben, kommen alle nicht in den Himmel“, sie hätten in vielen Punkten nicht auf ihn gehört. Außerdem sei die „ganze Gesellschaft“ verantwortlich „für ihre Arbeitslosen“. Und so stellt sich Hartz die Verbesserung der Verhältnisse vor: Künstler sollten die Reformen mit Straßenkunst anschieben, Priester sollten Hartz IV von den Kanzeln predigen, Journalisten sollten ihre Arbeit in den Dienst der Sache stellen. Kurz: Die ganze Republik solle als Propagandaapparat für die nach ihm benannten Reformvorschläge fungieren. Das Publikum schwieg ungläubig und peinlich berührt, einzig entsetztes Gemurmel war zu vernehmen. Dass der Manager Hartz indes selbst trotz vorzeigbaren Milliardengewinns 30.000 Entlassungen einkalkuliert – und damit sein eigenes Credo der Schaffung von Arbeitsplätzen konterkariert, das machte die engagierte ZDF-Journalistin Slomka deutlich.

 

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