Nicht ohne Ethik-Kodex

Erfahrungen europäischer Länder mit Organen der Selbstkontrolle

Journalistinnen und Journalisten, Medien- und Rechtswissenschaftler sowie Vertreter des Verlagswesens trafen sich Ende Oktober 2005 zu den 4. Medienrechtstagen an der Europa-Universität Viadrina in Frank­furt / Oder. Neben der Unabhängigkeit des Pressevertriebs und der kritischen Situation der Medien in Russland, Belorussland und der Ukraine wurde die „Selbstregulierung der Medien statt Staatsaufsicht“ in den ost- und westeuropäischen Staaten diskutiert.

Vier Erfahrungsberichte, die sehr unterschiedliche Entwicklungen dokumentieren, kamen von Journalisten und Juristen aus Bulgarien, der Ukraine, Russland und Estland.

„Wir verfügen jetzt mit der Nationalen Stiftung für Journalistische Ethik über einen Presserat, der dem Ethik-Kodex verpflichtet ist. Das lässt Positives für die Zukunft der Medienentwicklung in Bulgarien hoffen“, berichtete Ognian Zlatew, Direktor des Medienentwicklungszentrums Sofia. Das Leitungsgremium des Presserates besteht aus je zwei Vertretern des Verlegerverbandes Bulgariens und der Vereinigung des Bulgarischen Rundfunks und Fernsehens, aus einem Mitglied des Bulgarischen Journalistenverbandes sowie einem Repräsentanten der so genannten Bulgarischen Medienkoalition sowie Zlatew vom Medienentwicklungszentrum. In den nächsten Wochen sollen zwei Beschwerde-Kommissionen eingesetzt werden: eine für Rundfunk und Fernsehen, die zweite für den Printmedien-Bereich. Jede Kommission werde zu gleichen Teilen mit Journalisten, Verlegern und Vertretern der Öffentlichkeit besetzt sein. „Ende November dieses Jahres sind die beiden Kommissionen funktionsfähig“, hofft Zlatew. Die Notwendigkeit der Festsetzung journalistischer Standards und eines Ethik-Kodexes als Mittel der Selbstregulierung war in Bulgarien in den letzten Jahren immer deutlicher zutage getreten. Es gab mehrfach Versuche, solche ethischen Grundsätze festzuschreiben, die jedoch von der Mehrheit der Journalisten aus verschiedenen Gründen nicht akzeptiert wurden. Ende November 2004 ist es gelungen, basierend auf Vorbildern in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden, den Ethik-Kodex zu verabschieden.

Vertrauen wiedergewinnen

In der Ukraine wurde am 16. September 2001 die Journalistische Ethikkommission von der Basis als rein journalistische Initiative gegründet. Diese Form der Selbstregulierung wertet Taraz Kuzmow, Mitglied der Ethikkommission, „als einen Versuch des Selbsterhalts in einer äußerst kritischen Situation“. „Es geschah ein Jahr nach der Ermordung des Journalisten Juri Gongadse und in der Absicht, eine Diskussion über die ethischen Standards der Arbeit der Journalisten der Ukraine herbeizuführen vor den damals bevorstehenden Parlamentswahlen. Außerdem waren die ukrainischen Medien in den Jahren 1996 – 1997 unter dem enormen Druck der Regierenden zum blinden Propaganda­instrument verkommen“, so Kuzmarow. Gleichzeitig wurde damals ein Ethik-Kodex verabschiedet, der später mehrfach von der Ethikkommission ergänzt wurde. Die Leitung der Kommission hat 23 Mitglieder, 19 von ihnen sind Journalisten. Dabei gehe es bis heute jedoch nicht nur um Fragen der Selbstregulierung. Letztlich hätten die Journalisten und die Medien in der Ukraine mit zu der jüngsten Dezemberkrise beigetragen. „Da wurde in den Medien so viel gelogen, dass ihnen heute niemand mehr glaubt. So müssen wir uns heute vor allem um grundlegende ethische Probleme unserer Berufsausübung kümmern, versuchen, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen“, hob Kuzmarow hervor. Beschwerden nachzugehen, sei unter den gegebenen Umständen eine eher nachrangige Aufgabe.

„Von staatlicher und Selbst-Regulierung zur Co-Regulierung.“ Das ist der Weg, der Prof. Dr.Wiktor Monachow, Mitglied des Expertenrats der Duma für Medienpolitik aus Moskau zufolge, beschritten werden muss. In Russland exis­tiert zur Zeit die vom VI. Kongress des Journalistenverbandes Russlands 1998 ­gegründete Große Jury als einziges real funktionierendes Selbstregulierungsorgan. Diese Große Jury tritt als korporative Institution der Bürgergesellschaft auf und untersucht „Konfliktsituationen sittlich-ethischen Charakters, die in der Gemeinschaft der Journalisten bei der Erfüllung der Berufspflichten entstehen.“. Sie stützt sich dabei auf den Kodex der professionellen Ethik des Journalistenverbandes Russlands aus dem Jahr 1994. Erkennt jedoch die Partei, deren Handlungen von der Jury gerügt werden, die Zuständigkeit der Großen Jury nicht an, ist die Jury machtlos und kann ihre Funktion als Schiedsrichter nicht ausüben. „Dies erscheint nicht zureichend und nicht bürgernah“, so Monachow. Deshalb müsse „ein System der Co-Regulierung entwickelt werden, wo sowohl staatlicherseits in der einen oder anderen Form wie auch seitens der Bürgergesellschaft Einfluss genommen werden kann.“ Im Sommer dieses Jahres bildeten deshalb 200 in der Gesellschaft anerkannte Organisationen gemeinsam ein für die Bürgergemeinschaft repräsentatives Organ für Pressebeschwerden. Darin soll es zwei Kammern geben. Der ersten Kammer, die sich mit professionellen journalistischen Fragen befasst, werden 25 der angesehensten Journalisten des Landes angehören, in der anderen sind Architekten, international bekannte Regisseure und andere Persönlichkeiten, ebenso wie der Jurist Monachow vertreten. Für die konkrete Fall-Bearbeitung aufgrund von Beschwerden sei darüber hinaus die Einsetzung von ad-hoc-Kommissionen mit 5-7 besonders geeigneten Mitgliedern aus beiden Kammern vorgesehen, beschreibt Professor Monachow ein recht kompliziertes Sys­tem.

Presserat in Estland

„Über ein Jahr ist Estland jetzt EU-Mitglied, eine direkte staatliche Einmischung in die Medien existiert nicht, was jedoch auch nicht heißt, dass wir uns bequem zurücklehnen können. Ich bin eigentlich sehr stolz, dass es in Estland kein Pressegesetz gibt, was ich auch für überholt halte. Es gibt bei uns verhältnismäßig wenig Regulierung, dafür hat sich die Selbstregulierung als recht effektiv erwiesen“, so Tarmu Tammerk vom Estnischen Presserat. „Eine Lektion, die wir mit der Zeit lernen mussten, ist, dass ein Presserat unbedingt breiteste Akzeptanz im Medienbereich finden sollte. Sonst kann man nicht von Selbstregulierung sprechen.“ 2002 habe es eine Krise im Presserat gegeben. „Wir mussten ihn neu aufstellen mit neuem Statut und neuer Zusammensetzung.“ Die Folge war, dass der Presserat nicht mehr als unabhängige Nichtregierungsorganisation existiert, dem z.B. Institutionen angehören, die nichts mit den Medien zu tun haben, wie der Kirchenrat. Der Presserat ist dem Zeitungsverband angegliedert. Im Rat gibt es sechs Medienvertreter, vier weitere Mitglieder kommen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen. Der Rat erörtert Beschwerden über die Printmedien, den Rundfunk und das Fernsehen der zurückliegenden drei Monate. Er tritt einmal monatlich zusammen und kann schnell agieren. Das Besondere: Alle Zeitungen haben in ihrem Impressum zu stehen: „Sollten Sie irgendwelche Beschwerden zum Inhalt der Zeitung haben, können Sie sich an den Presserat Estlands wenden.“ Hinzugefügt sind Telefonnummer, E-Mail-Adresse und Homepage unseres Presserates. Außerdem besteht der in Estland 1991 gegründete „Rat des Öffentlichen Wortes“ neben dem Presserat weiter. Er geht nach wie vor der Medienkritik sozusagen von außen nach. Grundlage für beide ist der Ethik-Kodex , der 1996 festgeschrieben worden ist und sich an den Regelungen in Finnland, Norwegen und Großbritannien orientierte. 2003 wurden die journalistischen Standards des Presserates von den großen Online-Portalen übernommen, 2005 traten der Estnische Rundfunk und das Estnische Fernsehen dem Presserat bei. „Der umgebildete Presserat hat bisher gut funktioniert und der Öffentlichkeit die Möglichkeit gegeben, Kritik zu äußern und behandelt zu wissen“, so Tarmu Tammerk.

Über die Arbeit von Presseräten und von anderen Gremien der Selbstregulierung berichteten auch Kolleginnen und Kollegen aus Belgien, Bosnien, Deutschland und den Niederlanden.

 

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