Ohne „Moralkeule“ sachlich berichten

Foto: Susanne Stracke-Neumann

Vieles spricht für einen Klima-Wandel im Journalismus

Vor gut einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seinem Beschluss zum Klimaschutzgesetz klargestellt, dass durch mangelnden Klimaschutz die Grundrechte nachfolgender Generationen beeinträchtigt werden und „intertemporale Freiheitssicherung“ nötig ist. Karlsruhe hat damit den Wert der Nachhaltigkeit in direkten Bezug zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gesetzt und substanziell gestärkt. Für die Politik war dies die Hausaufgabe, das Klimaschutzgesetz nachzubessern – aber was bedeutet die Stärkung des Nachhaltigkeitsauftrags für die Medien? Zu dieser Frage fand am 18. März ein Workshop mit 25 Expert*innen aus Journalismus, Medienpolitik, Medienaufsicht, Recht und Wissenschaft statt, organisiert von der Schader-Stiftung und der Universität Leipzig im Rahmen der „Darmstädter Tage der Transformation“.

Zur Leitfrage des Workshops „Was bedeutet das Klima-Urteil des BVerfG für den Journalismus?“ fanden sich grob zwei Haltungen. „Das Urteil richtet sich an den Staat, nicht an Private, an die Wirtschaft und auch nicht an staatsfreie Medien. Es entfaltet keine Drittwirkung“, konstatierte Rechtsanwalt und Staatssekretär a.D. Dr. Rudolf Kriszeleit. Ähnlich meinte die Präsidentin des Verwaltungsgerichts Darmstadt, Dagmar Rechenbach: „Eine besondere Verpflichtung der Medien zur Neuausrichtung im Sinne der Fragestellungen lässt sich aus dem Klimaschutzbeschluss des BVerfG nicht ableiten. Eine abweichende Behandlung des Themas gegenüber anderen gewichtigen Kontexten – vergleiche nur Rentensystem, Staatsverschuldung –, die ebenfalls intertemporale verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen, wäre schwer zu begründen.“ Für „Tagesspiegel“-Redakteur Dr. Jost Müller-Neuhof integriere der BVerfG-Beschluss den Klimaschutz in das verfassungsrechtliche Konzept staatlicher Schutzpflichten – das beinhalte für den Journalismus aber lediglich „die Aufgabe, darzustellen und aus Perspektive der Öffentlichkeit zu kontrollieren, inwieweit den derart betonten Pflichten durch staatliche Stellen entsprochen wird“.

Dieser Zurückhaltung, die tendenziell bei den ausgebildeten Jurist*innen in der Runde zu finden war, standen Ansichten über weiterreichende Implikationen gegenüber. „Aus dem Diktum des Verfassungsgerichts, Klimaschutz sei Bedingung für Freiheit, ergibt sich für die Presse ein erneuerter Auftrag, über die Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels endlich umfassender aufzuklären“, so Kurt Stukenberg, Ressortleiter Wissenschaft des „Spiegel“. Für den Datenjournalisten Lorenz Matzat, Mitgründer von Algorithm-Watch und Gastprofessor für die Zukunft des Journalismus an der Universität Leipzig, bedeutete der Beschluss, „dass der Journalismus einen neuen Bezugspunkt in sein Koordinatensystem übernehmen muss: das Wohl und die Interessen der künftigen Generationen. Denn die Presse in Deutschland ist an das Grundgesetz gekoppelt und in Pressegesetzen der Bundesländer heißt es: ‚Sie dient der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.‘“

Die stärkste Aussage in dieser Richtung traf Heiko Hilker, Ko-Geschäftsführer des Dresdner Instituts für Medien, Bildung und Beratung sowie MDR-Rundfunkrat: „Die Medien sind eine Säule der bundesdeutschen Demokratie. Ihre Berichterstattung muss Grundrechte sichern und schützen. Wenn das Agieren von Exekutive, Legislative und Judikative dem Erreichen der Klimaschutzziele entsprechen müssen, dann gilt dieser Anspruch auch für die Berichterstattung der Medien.“ Als eine Synthese der Positionen bot Dr. Otfried Jarren, emeritierter Professor für Kommunikationswissenschaft der Universität Zürich, folgende Perspektive an: Der Gerichtsbeschluss habe zwar keine unmittelbare Drittwirkung für die Medien, sei aber auch als Aufforderung an diese zu verstehen, verstärkt das Leitbild Nachhaltigkeit in der Öffentlichkeit zu reflektieren: „Insofern ist es eine Chance, dass das Verfassungsgericht jetzt gesagt hat, eine solche Leitbild-Diskussion soll gesellschaftlich geführt werden.“

Von Aktivismus und Objektivität

Wenn Nachhaltigkeit und Klimaschutz nun von Karlsruhe gestärkt wurden: Werden dann die Karten in der Aktivismus-Debatte neu gemischt? Wie sieht es aus mit dem Rollenverständnis und den üblichen Kriterien journalistischer Qualität? Wiederum zeichneten sich zwei Fraktionen ab. Grob umrissen: eine Fraktion pro Meinungsvielfalt, Unparteilichkeit und Neutralität und gegen Missionierung und Belehrung, die andere gegen falsche Ausgewogenheit und Missbrauch des Begriffs Meinungsvielfalt sowie für das Hinterfragen des Objektivitätsideals und für eine Schärfung etablierter Qualitätskriterien. „Eine objektive Berichterstattung ist aus psychologisch-neurowissenschaftlicher Sicht unmöglich und sollte nicht länger als vermeintlich zu erreichendes Ziel proklamiert werden“, forderte Maren Urner, Professorin für Medienpsychologie an der HMKW Köln und als Mitgründerin von „Perspective Daily“ eine Vorreiterin des Konstruktiven Journalismus. „Genauso wenig wie eine Abwägung, ob das Überleben der Spezies Mensch auf dem Planeten Erde ‚Aktivismus‘ sei, sich jeder Logik entzieht, ist Journalismus stets durch zahlreiche subjektive Entscheidungen und Werte geprägt.“ Ähnlich meinte Sara Schurmann, Mitgründerin des Netzwerks Klimajournalismus Deutschland: „Das journalistische Bestreben, sich neutral zwischen wirtschaftlichen und ökologischen Interessen zu positionieren, führt zu einer systematischen Verzerrung der Wahrnehmung des Ausmaßes der Krise.“

„Spiegel“-Ressortleiter Kurt Stukenberg erklärte bezüglich der Unparteilichkeitsnorm: Wenn Journalist*innen „etwa bei Themen wie Ressourcenverbrauch und Transformationsgeschwindigkeit kritische Nachfragen unterlassen, ergreifen sie faktisch Partei für den Status quo“. Wer alle Stimmen gleichgewichtig wiederzugeben trachte, um Ausgewogenheit herzustellen, sei Teil des Problems, betonte Wissenschaftsjournalist Christopher Schrader („RiffReporter“): „Lobbygruppen können keine sinnvollen Einwände zu wissenschaftlich anerkannten Erkenntnissen äußern.“ Er plädierte dafür, „Wortmeldungen daran zu messen, ob die enthaltenen Ideen mit dem Ziel der Klimaneutralität vereinbar sind“.

Hingegen erachtete es Dagmar Rechenbach vom Verwaltungsgericht Darmstadt als wichtig, „einer Polarisierung der Gesellschaft durch Ausgewogenheit und Mäßigung bei der Berichterstattung entgegenzuwirken“, und Oliver Quiring, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Mainz betonte, dass „Journalismus nicht belehrend auftreten sollte“. Die „Moralkeule“ zu schwingen, erzeuge Trotzreaktionen beim Publikum. Die freie Journalistin Heike Janßen, Vorsitzende des Netzwerks Weitblick – Verband Journalismus & Nachhaltigkeit, fragte nach: „Ist es eine Moralkeule, wenn man sagt, es wäre gut, wenn alle Menschen weniger Fleisch essen oder weniger fliegen? Das wäre für mich keine Moralkeule, sondern eine Schlussfolgerung aus wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das ist Physik. Das kann man ja ausrechnen, was das bedeutet, wenn wir so weitermachen wie bisher.“ Quiring konkretisierte: „Die Moralkeule sehe ich nicht, wenn wir über dringend notwendige Handlungen schreiben und diese bewerten, sondern dann, wenn in diesem Zusammenhang Personen abqualifiziert werden – also wenn es persönlich wird und nicht mehr sachlich ist.“

Als Konsens in der Qualitätsfrage stellte sich heraus, dass es zu eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen keine verschiedenen Meinungen geben kann, aber Meinungsvielfalt bei den Wegen zur Lösung des Problems abgebildet werden sollte. „Mit welchen Instrumenten Klimaschutz erreicht werden kann“, betonte der hessische FDP-Landtagsabgeordnete Oliver Stirböck, „muss Teil eines offenen und freien politischen Diskurses bleiben, der sich auch in der Medienberichterstattung widerspiegeln sollte.“

Klima in die Ausbildung!

Auf die Frage, welchen konkreten Handlungsbedarf die indirekten Implikationen des BVerfG-Beschlusses für den Journalismus erzeugen, wurde eine Vielzahl von Aspekten aufgebracht, von der Ausbildung von Journalist*innen über Programmformate fürs Klima bis hin zu möglichen medienregulatorischen Neuerungen. Der Journalist und Coach Dr. Chadi Bahouth von den Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM) meinte: „Ähnlich meiner Erfahrung bei den NdM bezüglich der Thematik Migration/Integration /Flucht etc. sehe ich großen Handlungsbedarf in der Ausbildung von Journalist*innen. Sie müssen wir bereits während des Studiums für Klima sensibilisieren.“ Speziell der beitragsfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk, so sah es die RBB-Rundfunkratsvorsitzende und Vorsitzende der ARD-Gremienvorsitzenden-Konferenz Friederike von Kirchbach, solle für einen „kritischen, konstruktiven und aktivierenden“ Journalismus „sein journalistisches Selbstverständnis novellieren und in die Aus-, Fort- und Weiterbildung seiner Journalistinnen und Journalisten investieren“.

Ganz konkret machte es Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin in der ARD-Tagesschau-Redaktion: „Was wir schaffen müssen, ist Menschen auszubilden, die in der Lage sind, ein Klimaproblem oder einen IPCC-Bericht in einem Beitrag von einer Minute dreißig zu erklären. Genau davon haben wir zu wenige.“ Viele Nachwuchsjournalist*innen wollten für Quarks & Co. oder für Nano arbeiten oder für „Die Zeit“ schreiben, man müsste die Komplexität aber auch für Zuschauer*innen, die sich nicht speziell für die Klimakrise interessierten, herunterbrechen. IPCC-Berichte, das gab Chadi Bahouth zu bedenken, passten aber nicht in Eins-Dreißig-Formate: „Wir müssen verstehen, dass es Problematiken gibt, die nicht in unsere Formate reinpassen – und dann unsere Formate ändern.“ Für eine Vielzahl von Formaten zur Klimakrise plädierte Dr. Irene Neverla, emeritierte Professorin für Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg: Angesichts des Beschleunigungsdrucks durch Ökonomisierung und Digitalisierung könnten Medien Verantwortung für „temporale Resilienz übernehmen“, die „Fixierung auf aktuelle, extrem gegenwartsbezogene Inhalte überwinden“ und „breitere, längerfristige, intertemporale Zeitperspektiven einbringen, die sowohl historische Erfahrungen wie auch zukünftige Herausforderungen stärker in den Blick nehmen“.

Als Aufgabe speziell für die Öffentlich-Rechtlichen formulierte Dr. Christoph Bieber, Politik-Professor an der Universität Duisburg-Essen und ehemaliger WDR-Rundfunkrat, „die Erstellung und Verbreitung von Bildungsangeboten zum Klimawandel“ sowie „bürger- und gesellschaftsorientierter Kommunikations- und Beratungsformate, die für einen lebendigen Klimadiskurs sorgen“. Große Wirkung könne man zudem auch erzielen, wenn man abseits des traditionellen Journalismus zum Beispiel TikTok-Influencer*innen zum Klima-Komplex briefe, so wie es kürzlich in den USA mit Briefings zum Ukraine-Krieg gemacht wurde.

Nachhaltigkeit in den Pressekodex und den Medienstaatsvertrag?

Schließlich stellte sich die Frage, ob Gesetzestexte und Kodizes zur Medien(selbst)regulierung ergänzt werden sollten, um dem Geist des BVerfG-Beschlusses Rechnung zu tragen. Dr. Uwe Krüger von der Universität Leipzig schlug vor, den Pressekodex des Deutschen Presserats zu erweitern: In Ziffer 1 („Achtung der Menschenwürde“) oder Ziffer 12 („Diskriminierungen“) könne eine Richtlinie die Presse an ihre Verantwortung für künftige Generationen und entsprechende Transformationserfordernisse erinnern. Presserats-Mitglied Dr. Jost Müller-Neuhof wehrte ab: „Der Pressekodex definiert allgemeine presseethische rote Linien für die Praxis journalistischer Arbeit, enthält jedoch keine Vorgaben oder Leitlinien für ihren konkreten Inhalt bzw. die Wahl der Themen.“ Nicht ausgeschlossen sei es aber, dass die umfassende Berücksichtigung von Umweltaspekten sich im Umgang mit Sorgfaltsmaßstäben – Ziffer 2 des Pressekodex – praktisch niederschlage.

Mehr Zustimmung gab es für die Idee, den Programmauftrag der Öffentlich-Rechtlichen um Nachhaltigkeitsaspekte zu ergänzen: „Warum steht im Medienstaatsvertrag als Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen die Förderung der internationalen Verständigung, der europäischen Integration und des gesellschaftlichen Zusammenhalts festgeschrieben, nicht aber die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte nachhaltige Generationengerechtigkeit?“, fragte Barbara Junge, Ko-Chefredakteurin der „taz“. Es wurde in der Runde zwar die Befürchtung geäußert, dass eine solche Vorgabe als „Zensur“ verstanden werden könnte, aber auch die Ansicht, dass eine solche Ergänzung die „logische Folge“ des BVerfG-Beschlusses sei. In diesem Zusammenhang erinnerte Olaf Tschimpke, ZDF-Fernsehrat und Vorsitzender der NABU International Naturschutzstiftung, an die Vorgeschichte des BVerfG-Beschlusses: Dieser sei „nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer 50-jährigen wissenschaftlichen Debatte und Forschung zu den Folgen der Klimaerwärmung, dem Verabschiedung der Klimarahmenkonvention vor 30 Jahren und dem Abschluss des Pariser Abkommens 2015 – mit dem fatalen Ergebnis, dass wir heute die höchsten jemals gemessenen Emissionswerte feststellen müssen.“ Das BVerfG habe deshalb nun eine deutlich höhere Gewichtung des Themas von der Politik und der Gesellschaft eingefordert.

Mehr Anerkennung und Wertschätzung

Auf jeden Fall bedeute das Karlsruher Verdikt Rückenwind für alle Klimajournalist*innen, die sich teilweise seit Jahrzehnten für das Thema aufgerieben haben, meinte Heike Janßen vom Netzwerk Weitblick: „Viele hatten zwischendurch Burn-outs und waren total verzweifelt, weil sie wussten, wie schlimm es steht, aber ständig auf Ignoranz in Redaktionen und Gesellschaft gestoßen sind. Das war extrem frustrierend und zermürbend.“ Auch die stellvertretende Chefredakteurin von klimareporter.de, Verena Kern, thematisierte die Arbeitsbedingungen und Belastungen und ergänzte: „Ich würde mir wünschen, dass Journalist*innen, die sich mit der Klimakrise beschäftigen, mehr Wertschätzung, Anerkennung und Förderung erhalten für diese wichtige Arbeit.“

Uwe Krüger Foto: Bernd Roeder

Dr. Uwe Krüger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Er hat die Veranstaltung mitorganisiert und moderiert.

 

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