Recherchepools auf dem Vormarsch – Zeit für originäre Geschichten
Der immer härtere Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Medienkonsumenten macht es möglich. Verlage und Sender investieren verstärkt in so genannte Recherchepools. Gemeint sind Spezialeinheiten, in denen Redakteure sich jenseits von Terminjournalismus um das kümmern, was im Redaktionsalltag vielfach aus Zeitmangel auf der Strecke bleibt: die Exklusivität.
„Originäre Geschichten sind doch die Seele des Printjournalismus“, sagt Kayhan Özgenc. Der 40jährige ist Leiter des Anfang September frisch gegründeten Ressorts für investigative Recherche beim Nachrichtenmagazin Focus. Er begrüßt den aktuellen Trend. Das „Nachklappen von Agenturen“ könne es schließlich nicht sein. Neue Besen kehren anders. Bei Focus spielte der „fulminante Chefredakteurswechsel“ im vergangenen Sommer eine entscheidende Rolle. Nach der 17jährigen Ägide unter Helmut Markwort habe die neue Chefredaktion „ neue Akzente setzen“ wollen. Natürlich sei investigative Recherche schon vorher kein Fremdwort gewesen – „wir kreuzen nun nicht plötzlich alle mit dem i auf der Stirn auf“. Es gehe jetzt eher um ein Bekenntnis zu „vernetztem Denken und Arbeiten“. Mit der Geschichte über das „geheime Vermächtnis“ von VW-Manager Ferdinand Piech hat die neue Unit bereits eine Duftmarke gesetzt. Kein Wunder, schließlich erhielt Özgenc schon 2006 den Henri-Nannen-Preis für die beste investigative Leistung bei der Aufdeckung der VW-Affäre.
Vergleichsweise jung ist auch der Recherchepool der WAZ. Er ist Teil des „Content Desks“, das nach der umstrittenen Neugliederung der WAZ-Mediengruppe im vergangenen Jahr aus Mantelressorts, dem Bereich CvD und den Korrespondenten gebildet wurde. Angesichts der veränderten Anforderungen müsse sich der Journalismus „weiter ausdifferenzieren“, sagt David Schraven, seit gut drei Monaten Leiter des Ressorts Recherche. Gefragt sei nicht mehr die „eierlegende Wollmilchsau“, der Allrounder, der vom Seitenaufriss bis zum Wetterbericht alles mache. Künftig werde es arbeitsteiliger zugehen. „Einige machen Layout, andere die Grafik. Und als neues Berufsbild gibt es den Rechercheur.“ Noch sei man bei der WAZ eine „freischwebende Truppe“, stecke im Findungsprozess. „Wir müssen erst mal den Kopf frei kriegen von der Vorstellung, dass es täglich eine Zeitung zu füllen gilt.“
Ebenfalls neu installiert ist die Rechercheeinheit bei dapd, der vor einem Jahr aus der Fusion von ddp und AP formierten zweitgrößten Nachrichtenagentur Deutschlands. Die Idee dazu kam aus der Chefredaktion, bekennt Ex-ddp-Mann Olaf Jahn, neben dem früheren AP-Mann Thomas Rietig einer der beiden Ressortchefs. Die neuen Chefs sähen in der neuen Unit „Sources“ eine „weitere Möglichkeit, unser Angebot zu stärken“. Das feste Team besteht aus sieben Mitarbeitern, die – orientiert am aktuellen Geschehen – „eigene Themen entwickeln“ sollen. Die Auftaktgeschichte untersuchte Dichtung und Wahrheit des Bundestages im Umgang mit seiner Dienstwagenflotte. Entgegen den Beteuerungen der Politiker ermittelten die Rechercheure in diesem Kontext eine Reihe von schweren Umweltsünden.
Zu den älteren Hasen im Recherche-Geschäft gehört Erwin Kohla, Leiter der Anfang 2007 gegründeten Abteilung „Reporter und Recherche“ beim Südwestrundfunk (SWR). Ausgangspunkt war wachsende Unzufriedenheit der Kollegen mit den Produktionsbedingungen des Tagesgeschäfts. „Wir lebten überwiegend von den Nachrichtenagenturen, hatten nur wenige eigenrecherchierte Geschichten“, erinnert er sich.
„Agenturmaterial sichten, Sitzungen, CvD, Moderatorenbesprechung – eine Routine wie im Hamsterrad“. Für eine gründliche Recherche originärer Themen habe regelmäßig die Zeit gefehlt. So besann sich die Hörfunkdirektion auf die „Kernkompetenz“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, seinen Anspruch, dem Publikum „Qualitätsjournalismus in Sachen Kultur und aktueller Information zu liefern“. Ergebnis: eine siebenköpfige Recherchetruppe, „kein Pool, sondern eine eigenständige Hörfunkabteilung“, wie Kohla betont. Qualität hat ihren Preis – die Einheit kostet immerhin 400.000 Euro im Jahr. Bei bestimmten größeren Themen hole man auch Kollegen vom TV „mit ins Boot“. Im Fernsehen verfügt der SWR mit „Report Mainz“ bereits über ein investigatives Magazin. Neben recherchestarken Redakteuren gebe es – nach dem Vorbild des Spiegel – auch einen Dokumentaristen, „der in Datenbanken fündig werden soll“.
Noch länger als die SWR-Rechercheredaktion existiert der Reporterpool des Norddeutschen Rundfunks. Bei der Gründung vor fünf Jahren sei es darum gegangen, „das publizistische Profil, das journalistische Gesicht des NDR-Hörfunks zu stärken“, berichtet Jens-Peter Marquardt, Politikchef von NDR Info, bei dem der Pool angesiedelt ist. „Nicht Quote, sondern Relevanz“ habe als Motivation im Vordergrund gestanden. Und der Ehrgeiz, das prestigeträchtige Feld nicht den gleichfalls in Hamburg residierenden Print-Dickschiffen wie Spiegel und Stern zu überlassen. Ein mutiger Schritt, galt doch gerade der öffentlich-rechtliche Hörfunk „nicht unbedingt als erste Adresse“ in Sachen investigative Recherche. Sechs Festangestellte und eine Reihe Fester freier Mitarbeiter bilden den Stamm des Reporterpools. Drei Freie tummeln sich pro Woche im Pool. Bezahlt werden sie nach Tagessätzen, um den höheren Rechercheaufwand zu würdigen. Ein Tagessatz, der mit derzeitig 227 Euro allerdings einigermaßen bescheiden ausfällt. Der NDR müsse halt wie alle anderen Anstalten auch sparen. So sei der Pool auch nicht durch Neueinstellungen gebildet worden, vielmehr sei „ein bisschen Manpower aus der Programmplanung rausgenommen, der Schichtplan ein wenig umgestellt worden“, sagt Marquardt. Die Rechercheeinheit stehe „als Instrument und Lieferant“ allen NDR-Hörfunkprogrammen zur Verfügung, vom Jugendsender N-Joy über NDR 2 bis hin zu den Landesprogrammen. Gelegentlich kämen Anfragen der Schwesterprogramme, wenn etwa bei schwierigen Themen die eigenen Ressourcen nicht ausreichten. Die meisten Geschichten liefen aber naturgemäß bei NDR Info.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Arbeitsweise – „das Team steht an allererster Stelle“, fordert Focus-Ressortleiter Özgenc. Selbstverständlich ist das nicht. Im Journalismus gebe es „viele Egoshooter“, solche, „die nur ihr eigenes Ding durchziehen“. Gute Rechercheure, die aber ihr Material und ihre Informanten eifersüchtig abschirmten. Die gelte es, einzubinden. Seine fünf Mitarbeiter hat er selbst rekrutiert, in München und Berlin. Gemeinsam beackert man Schwerpunkte wie Geheimdienste, Wirtschaftskriminalität und ähnliche Themen, harte Kost, mit denen ein bundesweites Magazin in der Leserschaft punkten kann. Das Ganze findet ressortübergreifend statt, bei direkter Anbindung an die Chefredaktion. Gelegentlich dockten Redakteure aus anderen Ressorts sich an. Bei bestimmten Projekten werde auch mal ein Kollege, eine Kollegin „mit ins Boot genommen“. Andersherum gilt das eher nicht. „Zuliefern ist nicht unser Job“, meint Özgenc, „wir sind eine Elitetruppe“. Eines ist für ihn klar: „Investigativ muss nicht bedeuten, dass man die Leute gleich an die Wand nagelt.“ Schließlich gebe es auch unterhalb dieser Ebene Themen von großer Relevanz. Wie etwa die Piech-Story.
Auch dapd -Mann Olaf Jahn hält gutes Teamwork entscheidend für den Erfolg. Es komme auf die Mischung an. Mit guten Rechercheuren allein sei es nicht getan. Daneben brauche man die Wühler, die „Aktenfreaks“, nicht zu vergessen solche, „die stark darin sind, Menschen zu öffnen, solche, die über soziale Kompetenzen verfügen“. Mit etwas Geduld stellten sich dann in der Regel Ergebnisse ein. Ebenso gelte: „Lieber zwei Tage mehr telefonieren als mit ‘nem halbgaren Experten reden.“
Nach dem Papier sollte der WAZ-Recherchepool eigentlich sieben Redakteure haben. Derzeit sind es jedoch nur vier. Eine Stelle sei nicht besetzt, eine Kollegin noch in der Elternzeit, räumt Pool-Chef Schraven ein. Angesichts dieser dünnen Besetzung kann natürlich der Verdacht aufkeimen, bei manch einem öffentlich gefeierten Rechercheprojekt handle es sich in Wirklichkeit eher um einen Marketing-Gag. Ein Verdacht, der so auch bei der letzten Jahrestagung von Netzwerk Recherche im vergangenen Juli in Hamburg geäußert wurde. Wenn nur noch einige wenige Redakteure mit investigativen Aufgaben betraut würden und der Rest der Redaktion sich zurücklehne, verkomme Recherche zum Alibi, kritisierte Netzwerk-Vorsitzender Thomas Leif. Wenn gleichzeitig noch Redakteure entlassen und freien Journalisten die Honorare gekürzt würden, werde die Feigenblattfunktion offensichtlich. Zur Erinnerung: Die WAZ-Gruppe hatte 2009 rund 300 ihrer 900 Redakteursstellen gestrichen und diverse Lokalredaktionen geschlossen. Den Vorwurf, angesichts solcher Verhältnisse sei das Investment in Recherche am Ende doch eher ein Marketingtrick, weist Schraven zurück. „Wir verschaffen uns mit dem Ressort im Kampf um die Aufmerksamkeit der Menschen Wettbewerbsvorteile“, sagt er. Anders als Focus-Mann Özgenc ist ihm jedes Elitedenken fremd. Im Gegenteil. „Wir müssen Dienstleister für alle Redaktionen der Gruppe werden.“ Einige Erfolge können sie sich schon auf die Fahne schreiben. Etwa beim Skandal um die Dortmunder Chemiefirma „Envio“. Bei rund 30 Mitarbeitern des Unternehmens wurden dramatisch hohe PCB-Werte im Blut ermittelt. Seit einem halben Jahr ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der vorsätzlichen Luft- und Bodenverunreinigung und des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung. Der WAZ-Pool unterstützt und entlastet den Kollegen vor Ort. „Wir helfen bei der Materialbeschaffung, stellen Anträge auf Akteneinsicht, zapfen eigene Quellen an, geben Tipps“, sagt Schraven. Dabei erscheinen die Rechercheure nicht als Autoren. Kollidiert das nicht mit der Eitelkeit mancher Kollegen? Schraven winkt ab: „Wir sind keine Selbstdarsteller.“
Auch die öffentlich-rechtlichen Recherche-Redaktionen können beachtliche Ergebnisse vorweisen. „Die stärksten Geschichten entstanden im Umfeld des Skandals um die HSH Nordbank“, bilanziert NDR-Info-Politikchef Marquardt. Ohne die beharrliche Arbeit der Kollegen, so vermutet er, wäre es in diesem Kasus kaum zur Bildung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in Hamburg und Schleswig-Holstein gekommen. Wenn jetzt diskutiert werde, ob Vorstandschef Dirk Jens Nonnenmacher noch zu halten ist, sei das auch Mitverdienst der NDR-Rechercheure. Profiliert hat sich das NDR-Team auch bei der Berichterstattung über rechtsradikale Umtriebe im Norden. In der Vergangenheit ging es um versuchte Hotelankäufe durch Rechtsextreme oder die Machenschaften des vor einem Jahr verstorbenen Neonazi und Holocaustleugner Jürgen Rieger. NDR-Info-Mann Stefan Schölermann, Spezialist für das rechte Milieu, sei „gefragter Experte“ bei Bildungsinstitutionen und anderen Einrichtungen. Davon profitiert auch sein Sender. „Im Radio wird der Kampf um Mehrheiten im Wort entschieden, nicht in der Musik“, bekannte Schölermann unlängst gegenüber dem NDR-Medienmagazin „Zapp“.
Dass am 30. September der Prozess gegen das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker wieder aufgenommen wurde, schreibt SWR-Mann Kohla nicht zuletzt „unserer beharrlichen Recherche zum Buback-Mord“ zu. Auch mit den „ständigen Enthüllungen“ in der Nürburgring-Affäre, wo es um suspekte Finanzgeschäfte der landeseigenen Nürburgring GmbH geht, habe der SWR investigativ-journalistisch punkten können. Solche Vorgänge bleiben in der ARD nicht unbemerkt. Dem Vernehmen nach erwägen auch andere Sender – zum Beispiel BR, MDR und WDR – den Aufbau eigener Teams für investigative Recherche.
Und welchen Sumpf wollen die Focus-Leute demnächst trocken legen? Ressortleiter Özgenc lacht mit gespielt drohendem Unterton: „Vielleicht knöpfen wir uns als nächstes mal die Gewerkschaften vor.“