Rettungsanker Storytelling

„Neue” Erzählform boomt – Authentizität bleibt zuweilen auf der Strecke

Informationsflut – Medien buhlen um die Aufmerksamkeit des Publikums. Als Rettungsanker erscheint da „Storytelling”: das anschauliche Geschichten erzählen, möglichst multimedial. Doch was bedeutet der aktuelle Storytelling-Boom für die journalistische Qualität, den „öffentlichen Auftrag der Presse”? Wie verändert er die Arbeitswelt von Medienschaffenden? Annäherungsversuche an den schillernden Begriff.

 

Narrative, d.h. erzählende Genres wie Dokumentation, Feature oder Reportage erhielten in Deutschland neue Impulse aus den USA, wo sich bereits vor einem halben Jahrhundert der New Journalism entwickelte, der in der literarischen Erzähltheorie wurzelt und Fiktionales mit Non-fiktionalem verquickt. Die in solchen Narrationen präsentierten Informationen gelten als sorgfältig recherchiert, verlässlich, transparent und authentisch – wie aktuell etwa bei der „Story im Ersten” im ARD-Spätabendprogramm. Doch auch die gefakten Promi-Interviews von Tom Kummer im Jahr 2000 fallen unter Storytelling. In der journalistischen Praxis erfährt die „neue” Erzählform zahlreiche Interpretationen und auch in der akademischen Fachwelt gibt es kaum eine Tagung ohne einen Vortrag über Storytelling.

Die Nürnberger Journalismusprofessorin Beatrice Dernbach referierte im Februar 2015 auf der Jahrestagung des Netzwerks Medienethik über Storytelling und hinterfragte an Beispielen, ob durch diese Variante narrativer Genres „die normativen Forderungen an den Journalismus (…) nach Distanz, Sorgfalt, Authentizität, Zuverlässigkeit und Wahrung der Persönlichkeitsrechte gefährdet” werden.

Fehlende Authentizität?

Dernbach unterscheidet zwischen „Narration” mit authentischer Realitätskonstruktion und Storytelling, das eine Geschichte mit Blick auf das Publikum „gut verkäuflich” gestalten will. Dabei bleibt die Authentizität zuweilen auf der Strecke, wie Dernbach an René Pfisters Porträt des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer demonstriert. Der Spiegel-Redakteur hatte dafür 2011 den Henri-Nannen-Reportagepreis bekommen, musste ihn aber wieder zurückgeben. Er suggerierte in seiner Geschichte „Am Stellpult”, Seehofers Modelleisenbahn im Keller mit eigenen Augen gesehen zu haben, obwohl er nur vom Hörensagen darüber informiert war. „Warum haben renommierte Journalisten wie Pfister das nötig”, fragt Dernbach, „warum halten sie eine journalistische Narration nicht durch und stellen nicht klar: ich bin nur der Erzähler, ich habe das nicht selbst erlebt?” Manfred Protze vom Presserat meint in der anschließenden Diskussion, „Erfindungen” in journalistischen Erzählungen seien unproblematisch, wenn sie als solche transparent gemacht werden.
Dernbach bezieht sich in ihrem Vortrag auf den Medienwissenschaftler Werner Früh, der 2014 die Tendenz problematisierte, Storytelling auch auf den „harten Informationsjournalismus, also Nachricht und Bericht” auszudehnen. Er plädiert dafür, „eine realitätsadäquate Darstellung” als Merkmal in die „journalistische Narrationsdefinition aufzunehmen.” Zur Abgrenzung schlägt er vor, zwischen authentischer „journalistischer Narration” und „Storytelling” zu unterscheiden. In empirischen Studien untersuchten Früh und sein Kollege Felix Frey politische TV- und Print-Beiträge. Ergebnis: 90 Prozent enthalten narrative Elemente. Zumeist handele es sich um „legitime, also nicht verfälschende Narrativität”, zwölf Prozent der Fälle zählen aber zu „dem aus normativer Sicht illegitimen Storytelling”.

Notwendig: Transparenz.

Das Problem von Storytelling ist nicht die Verbindung von Fakten und Fiktionen, sondern fehlende Transparenz. Journalismus brauche die Fiktion, um Fakten sinnhaft zu strukturieren, konstatierte die Berliner Kommunikationswissenschaftlerin Magreth Lünenborg bereits 2005: „Die spezifische Leistung des Journalismus liegt eben nicht in der Vollständigkeit und Systematik der Datensammlung, sondern in der spezifischen Kontextuierung, der Herstellung von Deutungs- und Interpretationszusammenhängen.” Man muss daher auch nach den Weltbildern und Wertvorstellungen fragen, die durch eine Geschichte transportiert werden. Wenn die Narration von den „faulen Griechen” in Beiträgen immer wieder durch Äußerungen wie „Wir deutsche Steuerzahler müssen für die Griechen zahlen” aufgerufen wird, dann steckt dahinter das Weltbild eines „unreflektierten deutschen Nationalismus”, konstatierte taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Hermann jüngst auf der Jahrestagung des Netzwerks Recherche.

Journalisten sollten soziale Wirklichkeit in ihren Beiträgen möglichst authentisch rekonstruieren und verdeutlichen, was sie selbst erlebt, welche Fakten sie recherchiert haben und was Spekulationen und Vermutungen sind. Wenn diese Transparenz fehlt, mangelt es dem Medienprodukt an journalistischer Qualität. Transparenz ist also ein entscheidendes Qualitätskriterium – besonders bei digitalem Storytelling.

Großen Wert auf diese Transparenz legt Saskia Kress, seit 2008 Produzentin und Geschäftsführerin bei Filmtank, einer Firma für Dokumentarfilme und crossmediale Projekte mit Sitz in Berlin, Hamburg und Ludwigsburg. Kress präsentierte im Juni 2015 auf der Stuttgarter Tagung „Das/Im Internet erzählen” digitales Storytelling par exellence: Das crossmediale Projekt „Netwars/out of CTRL” thematisiert den Krieg im Netz in verschiedenen Formaten, in denen „Cyberdealer” Nikolai Kinski „überall eine Rolle spielt”. Da gibt es eine interaktive Webdokumentation, eine TV-Doku, eine interaktive Graphic Novel App, ein Taschenbuch, eine e-Book- und eine audio-Book-Serie. Finanziell war Netwars für die kleine Produktionsfirma mit zehn Mitarbeitenden „ ein Riesenrisiko, aber es hat sich gelohnt.” Zur Zeit entwickelt das Filmtank-Team in Berlin eine fiktionale TV-Serie. Teils spielerisch, teils ernsthaft soll Wissen vermittelt werden über die zunehmend digitalisierte Gesellschaft und die damit verbundenen Gefahren. Dabei werden Fakten und Fiktion miteinander kombiniert, aber „immer kenntlich gemacht”, versichert Saskia Kress. So sei die Graphic Novel Fiktion, aber Fakten basiert.

Kress ist Diplom-Journalistin, hat für NDR und ZDF gearbeitet, sich 2004 aber für die Freiberuflichkeit entschieden, die sie zu Filmtank in Berlin führte. „Die neue Arbeitsweise macht total Spaß”, sagt sie. „Wir sind befreit vom reinen Sender- und Förderungsdenken.” Wenn Dokumentarfilmer mit Themenangeboten in TV-Redaktionen kamen, fehlte Geld, ein Sendeplatz. „Das macht mürbe.” Jetzt haben wir „wieder mehr Freude in unserem Beruf”.

Veränderte Arbeitswelt.

Geblieben sind die journalistischen Kernaufgaben: Informationen sammeln und aufbereiten, „ein komplexes Thema herunterbrechen.” Verändert hat sich die Zielgruppe, die online jünger ist als das traditionelle Fernsehpublikum. Neue Formate werden entwickelt : Statt eines Films wird ein „ganzes Themenuniversum kreiert”. Als Produzentin arbeitet Kress jetzt mit vielen „anderen Gewerken” zusammen: Programmierern, Game-Designern, Konzeptern für digitale Formate, Grafikern. „Ich sehe das als Chance, die wirklich bereichernd ist.” Man müsse nur aufpassen, dass man „sich nicht zu sehr in die Technik vertüdelt, nicht immer alles technisch Mögliche ausschöpft”. Denn „der User will auch konsumieren, nicht immer interaktiv sein.”

Digitales Storytelling boomt im Journalismus – vor allem in großen Verlagshäusern und Sendeanstalten, wo es finanzielle Mittel gibt, intensiv zu recherchieren und einen Beitrag vielschichtig zu gestalten. Wie bei der New York Times, die für ihr Feature „Snow Fall” den Pulitzer-Preis erhielt. Ein 16köpfiges Team hatte die Geschichte einer Skifahrergruppe, die 2012 durch ein schweres Lawinenunglück verschüttet wurde, mit Videos, Animationen und Original-Funksprüchen aus mehreren Perspektiven erzählt. Ein deutsches Beispiel für Multimedia-Storytelling ist „Geheimer Krieg” über den US-Kampf gegen den Terrorismus in Deutschland. 2013 startete das Projekt des Rechercheverbunds von NDR und Süddeutscher Zeitung, dem sich mittlerweile der WDR angeschlossen hat.

Auch im schnelllebigen journalistischen Tagesgeschäft erlebt Storytelling einen Boom – allerdings kommt es hier häufiger als Bouldevardisierung daher denn als journalistische Narration. Beatrice Dernbach vermutet dahinter den Druck von Verlegern, die darin ein Patentrezept zur Überwindung der medienökonomischen Krise sehen. Sie fragt, warum versuchen diese, Aufmerksamkeit durch „Effekthascherei” zu erreichen und nicht durch Qualität? Warum setzen sie auf Storytelling, das Boulevardisierung befördert, statt auf authentische journalistische Narration?

Links

www.netzwerk-medienethik.de/jahrestagung/tagung2015/ zukunft-des-journalismus-tag-2-fokus-wissenschaft/

www.spiegel.de/spiegel/print/d-73290158.html

https://www.hdm-stuttgart.de/english/studium/view_news ?ident=news20150527102533

http://netwars-project.com/de/

www.nytimes.com/projects/2012/snow-fall/#/?part=tunnel-creek

www.geheimerkrieg.de/#entry-5-7879-das-projekt

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