Transformation im Modus der Landnahme

Zeitgeschichtliches Forum Leipzig: Podiumsdiskussion mit den Zeitzeugen Michael Haller, Hans Poerschke, Heike Schüler und Horst Pöttker (v.l.n.r..) sowie Moderatorin Melanie Malczok (Mitte)
Foto: Stefan Hoyer/Punctum

Das Jubiläum 30 Jahre Mauerfall hat das Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft bewogen, dem „Abriss“ des Roten Klosters, wie die stark ideologisch ausgerichtete Sektion Journalistik der Leipziger Karl-Marx-Universität mitunter genannt wurde, eine öffentliche Debatte zu widmen. Im Zeitgeschichtlichen Forum der Pleiße-Stadt wurde am 21. November erörtert, „Wie die Journalistenausbildung in Leipzig verwestlicht wurde“.

Moderatorin Melanie Malzczok vom Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft sah den Abend eingeordnet in das Thema der 3. Jahrestagung, die sich insgesamt mit „Transformation der Medien – Medien der Transformation“ befasste. Sie begrüßte auf dem Podium des komplett gefüllten Saales Zeitzeugen der Entwicklungen vor 30 Jahren – mit Michael Haller und Horst Pöttker zwei Professoren, die Anfang der 90er Jahre aus den alten Bundesländern nach Leipzig kamen, um die Neugründung eines Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft zu befördern. Gekommen waren auch die RBB-Redakteurin Heike Schüler, die 1989 ein Journalistikstudium in Leipzig begonnen hatte und die Umbrüche als Studentin miterlebte, sowie Prof. Hans Poerschke, der seit 1970 an der Sektion Journalistik Pressegeschichte und Theorie des Journalismus gelehrt hatte und 1989/90 letzter gewählter Direktor war.

Fakten, Fakten, Fakten

Zum Hintergrund: Die Sektion Journalistik war als Institut für Journalistik und Zeitungswissenschaft 1951 gegründet worden, das an eine seit 1916 in Leipzig bestehende zeitungskundliche Tradition anknüpfte. 1968 aus einer Fakultät in die Sektion Journalistik umbenannt, beruhten Lehre und Forschung auf einem Verständnis des Journalismus als „ausgeprägt klassenmäßig bestimmte Institution des Überbaus der Gesellschaft“ (Wörterbuch der sozialistischen Journalistik). Auf dieser Basis wurden im einzigen universitären Studiengang der DDR mehr als 5000 Diplomjournalist*innen ausgebildet. Am 11. Dezember 1990 verfügte die Sächsischen Staatsregierung wegen ideologischer Belastungen die ersatzlose Schließung. Das rief energische Proteste, auch unter den aktuell immatrikulierten Student*innen hervor. Die Neugründung eines Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft, offiziell zum 2. Dezember 1993 begangen, eröffnete ihnen ein Weiterstudieren im Fach. Gründungsdekan wurde Prof. Karl Friedrich Reimers aus München. Von den zuvor 85 Wissenschaftler*innen der Sektion Journalistik erhielten am neuen Institut 15 Mitarbeiter*innen, fast ausschließlich aus dem akademischen Mittelbau, Beschäftigungsmöglichkeiten, heißt es rückblickend. Die neuberufenen Professoren kamen sämtlich aus den alten Bundesländern.

Versuche und vertane Chancen

Hans Poerschke gab dem Auditorium einen persönlichen Rückblick*, beginnend mit der Feststellung, dass sich kurz nach dem Mauerfall der Wille zu einer grundlegenden Neugestaltung von Forschung und Lehre manifestiert habe. Zum einen durch die Bestimmung einer neuen Sektionsleitung, zum anderen durch die Bildung zweier Arbeitsgruppen, die die Entwicklung eines neuen Studienkonzepts in Angriff nahmen. Dazu seien Kooperationen mit anderen Instituten im deutschsprachigen Raum angestrebt worden und eine „schmerzhafte Selbstbefragung“ der Leipziger Wissenschaftler in Gang gekommen. Die Abwicklungsankündigung durch die Sächsische Staatsregierung habe Erneuerungsprozesse abrupt abgeschnitten. Das „Fünf-Säulen-Modell“ für Lehre und Forschung, das Karl-Friedrich Reimers als Gründungsdekan des neuen Leipziger Instituts dann entwickelte, habe der Journalistik die bisherige Exklusivität genommen, auf hohe Akzeptanz und Wettbewerbsfähigkeit gesetzt.

Zur Frage, ob diese Umwandlung ein Gewinn für die Integration des Ostens gewesen sei, führte Poerschke aus, es habe sich um eine „Landnahme“ gehandelt: es sei ein „Stück herrenlos gewordenes akademisches Bauland nach einem mitgebrachten Bauplan von eingewanderten Bauleuten“ neu bestellt worden.

Er bedauerte, dass im Zuge der Neugründung „keine Analyse des Vorgefundenen“ stattgefunden habe. Die Evaluation des DDR-Lehrpersonals habe – egal wie integer sie teilweise geführt worden sei – nicht „dem Ziel gedient, neue Wege zu gehen, sondern festzustellen, ob jemand ‚integrierbar‘ war“. Ein Diskurs auf gleicher Augenhöhe sei nie vorgesehen gewesen. Das sei umso bedauerlicher, als sich in Leipzig die Chance geboten hätte, „die Rolle des Journalismus in den beiden zusammenwachsenden Teilen Deutschlands zu untersuchen und kritisch zu begleiten“. Solch potenzielles Alleinstellungsmerkmal der Leipziger Lehr-und Forschungseinrichtung wäre im Modus der Landnahme jedoch nicht durchsetzbar gewesen. Derartiges hätte zudem politisch gewollt sein müssen.

Zeit der Ermächtigung

Als „so ungewöhnlich nicht“, habe sie die aktive Rolle der Studierenden 1989/90 empfunden, erklärte Heike Schüler. Bereits die Montagsdemonstrationen seien trotz offiziellem Teilnahmeverbot mit Interesse begleitet, es sei viel debattiert worden. Die 120 Student*innen ihres Studienjahres hätten nach dem Mauerfall „geschlossen gegen den alten Lehrplan votiert“, ihr Studium sei daraufhin ausgesetzt, aber bereits nach wenigen Wochen wieder aufgenommen worden. Ziel der Studierenden sei es gewesen, mitzuentscheiden und „sich von innen heraus zu erneuern“. Sie habe dies als „Zeit der Ermächtigung“ erlebt. Die Lehrpläne seien verändert, neue Studienfächer wie Statistik darin aufgenommen und kritisches Denken gefördert worden. Alle Student*innen seien neugierig und sehr wissbegierig gewesen. Der Abwicklungsbeschluss habe einen „Rückschlag“ bedeutet, den man aber nicht hinnahm. Sie selbst, erzählte die jetzige RBB-Redakteurin, habe sich an der Besetzung des Rektoratsgebäudes beteiligt.

Die spätere Institutsneugründung habe letztlich etwa der Hälfte ihres Studienjahres einen Abschluss im ursprünglichen Fach, auch Auslandsaufenthalte ermöglicht. Sie sei stolz auf ihr 1994 erworbenes Diplom. Das unter sozialistischem Vorzeichen begonnene Studium in Leipzig habe ihr „großes Wissen und großes Handwerk“ vermittelt, von dem sie bis heute profitiere.

Prof. Michael Haller berichtete, dass er zum Wintersemester 1992/93 nach Leipzig gekommen sei, „als das Reimersche Fünf-Säulen-Institut mit Inhalten zu füllen“ gewesen sei. Er habe es als „neu und reizvoll“ empfunden, die Leipziger Journalistenausbildung umzugestalten. Der damals geprägte Slogan vom „Phönix aus der Asche“ sei oft missverstanden worden. Es sei nicht um die Asche der abgewickelten Sektion gegangen, sondern um ein Auferstehen unter Einschluss einer fast 80-jährigen Tradition. Expertise für den Neuanfang verschafften ihm auch „Umschulungskurse“, die er für den Deutschen Journalistenverband und die Bundeszentrale für politische Bildung bereits zuvor für frühere DDR-Journalist*innen geleitet hätte. Dabei sei es um die Bedeutung von Pressefreiheit im Produktionsprozess von Zeitungen gegangen, die gerade eine radikale Transformation vom Staatssozialismus zum marktwirtschaftlichen System durchliefen. Debatten um innere Pressefreiheit seien um das Verhältnis von Redakteur*innen gegenüber den Eigentümern der Medien gekreist, also um Wirkungsmöglichkeiten von Medienschaffenden auf dem Boden des Grundgesetzes.

„Moralisch und sachlich ungerecht“

Er habe „keine programmatischen Ideen“ mitgebracht, als er 1992/93 – „von der evangelischen Kirche geschickt“ – nach Leipzig gekommen sei, berichtete der emeritierte Journalistik-Professor Horst Pöttker: „Überwogen hat die Idee zu kooperieren.“ Das sei teilweise gelungen. Als er dann Mitte der 1990er Jahre an die TU Dortmund berufen worden sei, habe er wesentliche Teile der Leipziger Stilistik-Forschung und -Lehre nach dort implementiert und fortgeschrieben. Um einen genrespezifischen Teil ergänzt, sei das im 2000 erschienen Gemeinschaftswerk „Stilistik für Journalisten“ dokumentiert. Blicke er auf die vorgenommene Evaluation der DDR-Wissenschaftler – „einige konnten blieben, die meisten mussten gehen“ – so schätze er das heute als „sowohl moralisch als auch sachlich ungerecht“ ein. Im pluralistischen Wissenschaftssystem der Bundesrepublik suche man „marxistische Positionen in der Theorie des Journalismus heute wie die Stecknadel im Heuhaufen“. Man hätte sie brauchen können. Auch Lehrinhalte zu Sprache und Stil sowie journalistischer Methodik „wären heute noch für das Fach wichtig“.

Haller verwies auf die personalpolitische Überprüfung ehemaliger Sektionsangehöriger durch die Gauck-Behörde, die dazu geführt habe, dass mehrere „plötzlich weg“ gewesen seien. Doch dass der neue Journalistik-Diplomstudiengang in Leipzig „ein Erfolgsmodell geworden“ sei, verdanke man wesentlich ehemaligen DDR-Mitarbeiter*innen, die schnell andere Curricula und Prüfungsordnungen miterarbeitet hätten. Auch Diplomarbeiten zur Aufarbeitung der Wendejahre und darüber hinweg seien mit deren Hilfe entstanden. Im Laufe der 1990er Jahre sei es gelungen, etliches Erhaltenswerte zu transferieren. Doch gebe es aus seiner Sicht keinen Sinn, „museale Arbeit zu machen“. Selbst in der Stilistik habe es im Westen eine andere Tradition gegeben, sie sei „nicht so deduktiv, germanistisch geführt“.

Während der Diskussion hätte man im Publikum die berühmte Stecknadel fallen hören können.
Foto: Stefan Hoyer/ Punctum

Überfällige Debatte?

Ein Frager aus dem Publikum, der den Tenor der bisherigen Ausführungen als „zu versöhnlich“ bezeichnete, verlangte eine Stellungnahme zur Propagandistenrolle der in Leipzig ausgebildeten Journalisten, die „die Brutalität des DDR-Systems mit verursacht“ hätten.

Dass an der Sektion Journalistik „Propagandisten ausgebildet wurden, steht außer Frage“, antwortete Poerschke. Die Frage sei doch vielmehr, was das bedeute. Er halte Medienschaffende „nirgends frei von der Propagierung von Ideen“. Er jedenfalls könne seine Auffassungen von der Rolle des Journalismus in der Gesellschaft „nicht hinter sich lassen durch Abschwören“. Vielmehr beschäftige ihn bis heute in der Theorie Lenins der Widerspruch, dass Journalisten gesellschaftliche Emanzipation mit diktatorischen Mitteln bewirken sollten. Eine Definition für „Parteipresse“, die er Anfang der 90er Jahre einem Wörterbuch beizusteuern versprach, habe er bis heute nicht formulieren können.

Zuvor hatte Manfred Knoche, ebenfalls als Westimport zeitweilig Gastprofessor am Leipziger Institut, in der Diskussion über die erfolgte Transformation als Politik „unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ und von Kolonialisierung gesprochen. Der Medienjournalist Steffen Grimberg berichtete von einer während seines Studiums in Dortmund erfahrenen engen Verzahnung von theoretischer und praktischer Ausbildung „nach dem Leipziger Modell“, auch das Methodik-Lehrbuch aus Leipzig sei verwendet worden.

„Das Beste von allem mitzunehmen“, wäre nach Überzeugung von Heike Schüler die sinnvollste Lösung gewesen. Sie begrüßte, dass man nun zumindest nach 30 Jahren miteinander ins Gespräch komme. Es sei „ein Fass aufgemacht, was wohl längst geöffnet werden sollte“, war Fazit von Moderatorin Melanie Malczok.


* Prof. Dr. Hans Poerschke (82) lieferte zum Einstieg einen umfassenderen Vortrag, in dem bereits genannte Aussagen erläutert und vertiefte wurden. So führte er auch aus:

Kurz nach dem Mauerfall habe je eine Gruppe – aus Hochschullehrern bzw. wissenschaftlichen Assistenten und Studenten zusammengesetzt – die Entwicklung eines neuen Studienkonzepts in Angriff genommen, das Gastvorlesungen von außerhalb, weiterhin aber auch Seminare und praktische Übungen einschließen sollte. Die Studenten des ersten und zweiten Studienjahres seien wegen der Neupositionierung zeitweise beurlaubt worden. Eine Vertrauensabstimmung habe das zunächst dreiköpfige Direktorium auf seine Person zusammenschrumpfen lassen, so Poerschke. Trotz aller Bemühungen sei ein „eigenständiger Fortbestand der Sektion immer fragwürdiger geworden“, das Vertrauen der Student*innen sei gesunken, die „schmerzhafte Selbstbefragung“ der Wissenschaftler sei von der Öffentlichkeit nicht akzeptiert, sogar mit Hohn und Spott quittiert worden.

Dennoch sei die Abwicklungsankündigung der Sächsischen Staatsregierung überraschend gekommen und weder von der Leitung noch von Studierenden akzeptiert worden – zumal, da keinerlei Neugründung geplant war. Dass die Journalistikstudent*innen in einen Proteststreik traten, der sich bis zum Hungerstreik steigerte, habe großes Aufsehen erfahren. Eine Delegation unter seiner Leitung sei zum damaligen sächsischen Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer gefahren. Der habe, nicht zuletzt dank der Argumente des mitgereisten Wissenschaftlerkollegen aus Dortmund, schließlich überzeugt werden können, der Journalistik an der Leipziger Universität eine Zukunft nicht völlig zu verweigern.

Es sei eindeutig klar gewesen, dass in der journalistischen Ausbildung und Forschung „nichts mehr Platz haben würde, womit die Unterordnung des Journalismus unter eine Partei“ zu begründen wäre. Doch verwies Poerschke darauf, dass sich der theoretische und Lehr-Fundus der Journalistik-Sektion nicht darin erschöpft hätte. Fünf Felder potenziell nutzbarer „fruchtbarer Erkenntnisse“ nannte er: Teile der Geschichte des Journalismus, Ansätze einer Theorie der sozialen Kommunikation, die Methodik von Inhaltsanalyse, einen Fundus zu Sprache im öffentlichen Raum sowie zum Schaffensprozess und zur journalistischen Methodik. Lediglich aus den letzteren beiden seien – im Zusammenhang mit der Übernahme weniger Mitarbeiter*innen – „Bestandteile in den neuen Lehrprozess übernommen“ worden. Doch sei auch das, da nicht dauerhaft verankert, nur Episode geworden.


13.12. 2019

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