Unständig beschäftigt – unanständig versichert

Skandalöse Zustände in der Synchronbranche zeigen: Die Sozialversicherung von „Tagelöhnern“ ist völlig unzureichend

Auf der Jagd nach zusätzlichen Einnahmen wollen die Sozialversicherer immer mehr Beschäftigte als sogenannte „unständig Beschäftigte“ einstufen. Doch skandalöse Zustände bei Synchronsprechern im Raum Berlin machen deutlich: Alle Beteiligten sind mit der Beitragsverwaltung der „Unständigen“ überfordert. In großem Stil versickern die Beiträge der Betroffenen auf dem Weg in den Rentencomputer.

Als „Magnums“ Stimme vor rund zwei Jahren Post von der Rentenkasse bekam, verschlug es ihm die Sprache: Norbert Langer, vielbeschäftigter Synchronsprecher, unter anderem für die US-Detektivserie „Magnum“, fiel „fast in Ohnmacht“, als er seinen Versicherungsverlauf betrachtete, den ihm die Bundesversicherungsanstalt BfA zusammengestellt hatte. Schon bei flüchtiger Prüfung musste er feststellen, dass ein großer Teil seiner Rentenbeiträge aus über 25 Jahren Berufstätigkeit verschwunden war.

Langer kramte alle verfügbaren Unterlagen über seine Synchron-Jobs zusammen und ging damit zur BfA. Deren Angestellte brachten mit seinen Meldezetteln zwar mehrere Stunden am Kopiergerät zu, aber sie überließen es Langer, den offiziellen Versicherungsverlauf im Detail mit seinen Unterlagen abzugleichen.

Inzwischen arbeitet die freiberufliche Buchhalterin Marita Ociepka den Berg an Belegen ab und stellt die Differenz für jedes Jahr fest. Danach hat Langer beispielsweise im Jahr 1984 für 62.400 Mark Rentenbeitrag bezahlt. Registriert bei der BfA sind aber bisher nur 34.200 Mark. Im Jahre 1985 kamen 39.000 von den gezahlten 56.000 Mark nicht in den BfA-Unterlagen an. Und in den 90er Jahren ging es munter so weiter: 1991 wurden nur rund 47.000 von 69.000 Mark für die Rente registriert, im Jahre 1993 waren es rund 55.800 von 95.000 Mark. Langer: „Einen Schwund von zehn Prozent hätte ich aus Bequemlichkeit in Kauf genommen, aber das ist entschieden zuviel.“

Die Spitze des Eisberges

Den Versicherungsverlauf und damit die Höhe seiner Rente kann Langer nun mühsam nachträglich korrigieren lassen. Tausende Mark an zuviel gezahlten Beiträgen Kranken- und Rentenversicherung sind aber verloren. Denn was er über die Beitragsbemessungsgrenze hinaus gezahlt hat (allein 1984 mindestens 3000 Mark Beiträge), kann er sich nur bis spätestens vier Jahre später von den Sozialkasssen zurück holen.

Wie Langer geht es mindestens 20 weiteren Synchronsprechern, die Marita Ociepka seit Oktober 2000 als Kunden gewonnen hat. Bei allen stellte sie fest, dass 30 bis 50 Prozent der Beiträge im Versicherungsverlauf fehlen.

Verantwortlich dafür sind die komplizierten Vorschriften für die Sozialversicherung von tageweise Beschäftigten. Davon sind längst nicht nur Synchronsprecher betroffen. Die Synchronbranche ist nur die Spitze eines Eisberges.

In der Film- und Fernsehbranche kommt es häufig vor, dass Auftraggeber und Beschäftigte tageweise Sozialversicherung abrechnen müssen, unter anderem Cutterinnen und Kameraleute, TV-Reporter und Schauspieler. Da sie nicht als künstlerisch und publizistisch tätige Freiberufler angesehen werden, lässt man sie nicht in die – eigentlich angemessenere – Künstlersozialkasse.

Neue Berufsgruppen im Visier

Doch die Sozialversicherer haben den Kreis der unständig Beschäftigten erst im Mai 2000 neu definiert. Sie haben noch erheblich mehr Tätigkeiten im Visier, die nach ihrer Auffassung als „unständige Beschäftigung“ anzusehen sind. Je nach Tätigkeitsbild können zum Beispiel Aushilfsnachtwachen im Krankenhaus, Wagenwäscher beim Autoverleih, Aushilfskellner, Tagelöhner in der Landwirtschaft, Ausbeiner und Kopfschlächer bei Schlachthöfen und Aushilfspacker bei Spediteuren in diese Kategorie fallen.

Wolfgang Schimmel von der Rechtsabteilung von ver.di/ IG Medien hält das für eine Fehlentwicklung. „Bei den Kurzzeit-Beschäftigungen funktioniert das Sozialsystem nicht. Die Gesetze wurden für Beschäftigungen geschrieben, die eine gewisse Zeit dauern.“ Die Probleme zeigen sich besonders deutlich am Berliner Synchronsprecherskandal.

Viele Synchronsprecher haben 30 und mehr Auftraggeber, bei denen sie von Zeit zu Zeit arbeiten. Mal werden sie für das Sprechen weniger Sätze eines einzelnen Films zum Studio bestellt, mal sind sie auf Jahre hinaus für die Synchronisation bestimmter Figuren einer Fernsehserie eingeplant. An manchen Tagen haben Synchronsprecher Einsätze in fünf verschiedenen Studios, jeweils für wenige Sätze Text. Das Bundesfinanzgericht hat aus dem Berufsbild schon früh geschlossen, dass Synchronsprecher Selbständige sind – denn alles andere wäre den Finanzämtern zu kompliziert zu handhaben, sie müssten 30 Steuerkarten ausgeben und abrechnen.

Doch die Sozialversicherung bleibt bei der tageweisen Abrechnung, mit allen Ungereimtheiten.

Mal rechnen die Synchronstudios Sprecher als „unständig Beschäftigte“ ab, die Beiträge bis zur monatlichen Bemessungsgrenze abführen müssen, mal als „kurzfristig Beschäftigte“, die nur bis zur Tages-Bemessungsgrenze Renten- und Krankenversicherung zahlen.

Die Betriebsprüfer der Sozialversicherer machen dabei mit. So konnte die Buchhalterin der Hermes-Synchron in Babelsberg die BfA-Prüferin davon überzeugen, dass die meisten Sprecher „kurzfristig“ beschäftigt sind. Die Landesversicherungsanstalt (LVA) verdonnerte die cinephon Filmproduktion in Berlin hingegen dazu, ab 1998 alle ihre Synchronsprecher als „unständig Beschäftigte“ zu behandeln. Das kostet die cinephon nach Angaben von Geschäftsführer Martin Ruddigkeit 50.000 Mark im Jahr zusätzlich an Arbeitgeberbeiträgen. Das Geld würde er gerne zahlen, wenn dies für alle Synchronunternehmen gälte. So aber erleide sein Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil. Briefe an die LVA mit der Bitte, alle gleich zu behandeln, blieben nach Ruddigkeits Darstellung unbeantwortet.

Häufig kommen Unternehmen dadurch völlig um die Versicherungsbeiträge herum. Sie brauchen bloß nachmittags einen Versicherten als „kurzfristig“ einstufen, der am Vormittag schon bei einem anderen Sender oder Studio Sozialversicherung bis zur Tageshöchstgrenze bezahlt hat.

Rentenbeiträge versickert

Und das Geld der Kollegen versickert auf dem Weg zum Rentenanspruch in den Löchern und Schwachstellen des Systems.

Manche Arbeitgeber scheren sich nicht darum, an welche Kasse sie die Sozialbeiträge zahlen müssen. Sie schicken die Meldung an die örtliche AOK – und die weiß nicht, wohin damit. Bei bundesweiten Versichererungen wie der BEK schicken Arbeitgeber den Beitrag an die Geschäftsstelle am Arbeitsort. „Dann wandert die Meldung von Eingangskorb zu Eingangskorb, bis sie auf dem Weg zum Beitragskonto des Versicherten verschwindet, weil kein Sachbearbeiter die komplizierte Angelegenheit anpacken will“, sagt Angelika Speich, Buchhalterin bei Hermes-Synchron.

In Zeiten des Sparzwanges und der Gesundheitsreform fehlt es manchen Kassen offensichtlich an Personal, um die vielen Einzelbeträge einzubuchen. So bekam die Buchhalterin der cinephon, Karin Steinhauf, von einer Kasse eine Jahresmeldung zurück, auf der ein Sprecher mit nur 15 Einsätzen berücksichtigt war. Tatsächlich aber hatte Steinhauf den Kollegen mit 124 Einsätzen an die Krankenkasse gemeldet. Daniela Hoffmann, die Stimme von Julia Roberts, musste dieselbe Erfahrung machen. 30-mal war sie zum Synchronisieren eingesetzt und hatte Versicherungsbeiträge abgeführt, aber nur 14-mal hatte die Kasse dies in ihrem Computersystem eingegeben. Die Aufgabe, die Meldungen noch einmal abzugeben, bürdet die Krankenkasse den Unternehmen auf – einen Aufwand ohne Ertrag, den sich manche Firma wohl erspart.

Andererseits vergessen manche Unternehmen, den Beschäftigten die Versicherungsmeldungen zuzuschicken. So fand Marita Ociepka bei der Berliner AOK zusätzliche Beitragsmeldungen, die ihre Klienten nicht erhalten hatten.

Nach Ociepkas Recherchen klaffte jahrelang auch bei der Bundesversicherungsanstalt selbst ein großes Loch, in dem Rentenansprüche von Versicherten untergingen: War ein Versicherter im Versicherungscomputer nicht als „Unständig Beschäftigter“ registriert, machte das Programm bei Erreichen der Tages-Bemessungsgrenze dicht und berücksichtigte weitere Beiträge nicht mehr für die Rentenberechnung.

Antiquierte Abrechnungspraxis

Das zuviel Gezahlte muss den Versicherten auf Antrag zurückerstattet werden, die überschüssigen Arbeitgeberbeiträge sollen anteilsmäßig an die Arbeitgeber gehen. Eine mühsame Arbeit, die die Krankenkassen häufig ohne Computerunterstützung machen. Für jeden einzelnen Sprechereinsatz wird per Hand der Überschuss ausgerechnet und auf einem Formular notiert, das dann an Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschickt wird.

Wolfgang Schimmel von der IG Medien-Rechtsabteilung empfiehlt, das gesamte Verfahren für Beschäftigte mit kurzfristigen Verträgen auf eine vernünftigere Grundlage zu stellen, und zwar nach dem Muster der Künstlersozialversicherung: Die Arbeitgeber zahlen dann Beitrag für jede Mark, die an die tageweise Beschäftigten geht, während die Beschäftigten gemäß ihrem Jahreseinkommen abführen. Ergebnis: Eine durchgehende Versicherung ohne Lücken, bei geringem Verwaltungsaufwand, vor allem dann, wenn die unlogische Beitragsbemessungsgrenze fällt.

Das Chaos bei der Sozialversicherung hat viele Betroffene zur Weißglut getrieben. Synchronsprecher Peter Reinhardt wurmt es, dass er zuviel gezahlte Beiträge erst zwei Jahre später zurückerstattet bekommt: „Wer zahlt meine Kreditzinsen? Bekommen meine Erben das Geld zurück, wenn ich in der Zwischenzeit sterbe?“

Sein Kollege Norbert Gescher focht die Korrektur seines Versicherungsverlaufs vor dem Sozialgericht aus. Am Ende des Prozesse aber hatte außer Geschers Anwältin niemand seinen Stapel Belege durchgeackert, weder die BfA, noch die Richterin. Zu kompliziert war allen der Sachverhalt. Das Verfahren endete mit einem Vergleich, bei dem die meisten Ansprüche Geschers für die Rente pauschal anerkannt wurden.

Versicherte drehen Spieß um

Den Unmut der Branche bekam die BfA bei einer Veranstaltung im Oktober 2000 in Berlin zu spüren. Eigentlich wollten die Rentenversicherer dabei die Betroffenen über die Rechtsfigur der „Unständig Beschäftigten“ aufklären. Aber die drehten den Spieß um und klärten ihrerseits die BfA über die unhaltbare Praxis auf.

Sehr turbulent und emotional sei die Veranstaltung verlaufen, sagt der Leiter des BfA-Grundsatzreferates, Kubina. Die anwesenden Vertreter der Krankenkassen gaben sich laut Kubina gar nicht erst zu erkennen; keiner von ihnen meldete sich zu Wort.

Das Erlebnis, Aug in Aug mit Versicherten zu sprechen, blieb bei der BfA nicht ohne Wirkung. In einem Brief an die Krankenkassen kündigte die Bundesversicherungsanstalt an, sie werde in Zukunft bei den Kassen besonders prüfen, wie sie mit den Beiträgen und den Meldungen der unständig Beschäftigten umgehen.

Auch an das Bundesarbeitsministerium schrieb die BfA und bat darum, die „Problematik aufzugreifen und über eine zeitgerechte gesetzliche Regelung nachzudenken.“ Das Protokoll des Treffens mit der Synchronbranche lag dem Brief bei. Auf den Wunsch nach einer Gesetzesänderung hat das Ministerium bisher nicht geantwortet.


  • Ulli Schauen / freienseiten.de

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Preis für behinderte Medienschaffende

Zum zweiten Mal schreibt in diesem Jahr die gewerkschaftsnahe Otto Brenner Stiftung zwei Preise und Stipendien für Journalist*innen mit Behinderung aus. Damit soll „ein klares Signal für die Förderung von Diversität als unverzichtbaren Wert in unserer demokratischen Gesellschaft“ gesetzt werden, sagt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Stiftung. 
mehr »

KI darf keine KI-Texte nutzen

Die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der KI im eigenen Metier wird Journalist*innen noch lange weiter beschäftigen. Bei der jüngsten ver.di-KI-Online-Veranstaltung ging es um den Anspruch an Gute Arbeit und Qualität. ver.di hat zum Einsatz von KI Positionen und ethische Leitlinien entwickelt. Bettina Hesse, Referentin für Medienpolitik, stellte das Papier vor, das die Bundesfachgruppe Medien, Journalismus und Film zum Einsatz von generativer Künstlicher Intelligenz im Journalismus erarbeitet hat.
mehr »

Unabhängige Medien in Gefahr

Beim ver.di-Medientag Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen diskutierten am 20. April rund 50 Teilnehmende im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig die aktuelle Entwicklungen in der Medienlandschaft, die Diversität in den Medien und Angriffe auf Medienschaffende. Das alles auch vor dem Hintergrund, dass bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die AfD laut Umfragen stark profitiert. 
mehr »

Wie prekär ist der Journalismus?

„Daten statt Anekdoten“, das war das Ziel des Forschungsprojekts „Prekarisierung im Journalismus“ an der LMU München, das nun nach fast fünf Jahren mit einem internationalen Symposium in München endete. Zu den Daten aus Europa hatte auch die dju in ver.di ihren Beitrag geleistet, als sie ihre Mitglieder um Teilnahme an der Online-Befragung bat und in M über die Ergebnisse berichtete.
mehr »