Versteckte Kohl-Akten gehören allen

Um Kohl-Akten wurde schon einmal juristisch gestritten: Eine Journalistin quittiert im März 2005 in der Stasi-Unterlagenbehörde den Empfang der Kohl-Akten. Damals musste die Behörde nach langem Rechtsstreit Teile ihrer Unterlagen über Alt-Kanzler Helmut Kohl herausgegeben. Foto: Michael Hanschke/dpa

„In den USA hätte man wohl das FBI zu Helmut Kohls Witwe geschickt“, meint Gaby Weber. Die Journalistin und Buchautorin hat vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen das Kanzleramt auf die Herausgabe von Akten des vorigen Bundeskanzlers geklagt und damit vorerst keinen Erfolg gehabt. M sprach mit ihr über entwendete Regierungsakten und gewollte Defizite des Bundesarchivgesetzes.

M: Frau Weber, Sie haben vor dem Berliner Verwaltungsgericht auf die Herausgabe von Akten des ehemaligen Bundeskanzlers geklagt – und sind damit Ende Mai in dieser Instanz gescheitert. Inwiefern sind diese Akten von Bedeutung?

G. Weber: Helmut Kohl war 16 Jahre lang Bundeskanzler. Während seiner Amtszeit hat nicht nur die Wiedervereinigung stattgefunden, sondern auch ein massiver Umbau der bundesdeutschen Gesellschaft und ein Wiedererstarken des deutschen Militarismus. Diese Akten, so schreibt es das Bundesarchivgesetz vor, sind Eigentum des Bundes. Das wurde in einer von mir erstrittenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch klargestellt. Das heißt: sie gehören uns allen und müssen Forschern, Journalisten und Bürgern zur Verfügung stehen. Das geschieht, indem sie die Behörde – hier das Kanzleramt – an das Bundesarchiv in Koblenz abgibt.

Um wie viele Akten handelt es sich?

In der VS-Registratur, wo vermutlich seine Handakten und eben alle sensiblen, aber damit auch interessanten Unterlagen abgelegt sind, sollen sich heute noch 9.200 Akten befinden, die teilweise aus jeweils bis zu 100 Bänden bestehen. Daneben gibt es um die 80 Akten, die in der normalen Registratur lagern, dazu kommen Unterlagen zu Personalfragen und Ordner mit Petitionen.

Wirklich interessant sind wahrscheinlich die 9.200 Akten. Denn aus diesen Unterlagen lässt sich sicher ein differenzierteres Bild ablesen – verglichen mit dem, was Journalisten in Presseerklärungen mitgeteilt bekommen haben. Die Einsicht in diese Findmittel habe ich beantragt, aber nicht bekommen, weil sie noch im Berliner Kanzleramt liegen und nicht in Koblenz.

Und bei der Witwe Maike Kohl-Richter zu Hause?

Dort gibt es die Aktenordner, die Kohl 1998 aus dem Amt einfach mitnahm – man könnte auch sagen: entwendete –, um sie in der privaten Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin zu verstecken …

… die der CDU nahesteht und als Verein eingetragen ist.

Ja. Der Zugang dort ist eben nicht nach dem Bundesarchivgesetz geregelt. Meine Erfahrung, als ich dort nach Unterlagen zu Hans Globke suchte …

… dem Nazi-Juristen, Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze und späteren Chef des Bundeskanzleramts …

… war, dass ich einige Akten bekam, etliche nicht. Andere Journalisten erhielten einen besseren Zugang. Im Fall der Kohl-Akten sind diese Bestände auf Wunsch des Ex-Bundeskanzlers von Sankt Augustin nach Oggersheim geschickt worden, wo Kohl mit dem Historiker Heribert Schwan an seinen Memoiren schrieb. In Oggersheim liegen sie immer noch, die Witwe rückt sie nicht heraus.

Sind das private Aufzeichnungen von Kohl oder amtliche Dokumente?

Es geht bei diesen Akten nicht um Privatangelegenheiten wie sein Poesiealbum, auch nicht um die Papiere der CDU. Es geht um Akten des Bundeskanzleramts.

Er hat sie also einfach mit nach Hause genommen?

Deutschland hat in diesem Punkt sehr wenig ausgeprägte demokratische Traditionen. Die Kanzler haben das früher alle so gemacht, Adenauer, Schmidt und eben auch Kohl. In den USA hatte man das auch mal versucht und wollte „Presidential Libraries“ zu jedem Amtsinhaber einrichten, die dann von der jeweiligen Partei – Republikaner oder Demokraten – geleitet werden sollten. So sollte der National Archives and Records Administration (NARA), dem US-Bundesarchiv, Material entzogen werden – und damit auch allen Historikern und Journalisten. Es gab damals einen Riesen-Aufstand. Am Ende wurden zwar diese Präsidialbibliotheken eingerichtet, was blöd für unabhängige Forscher ist, die dann womöglich quer durch die USA reisen müssen. Aber diese Bestände werden von NARA-Beamten geführt und es gelten die NARA-Regeln. In den USA hätte man wohl das FBI zur Kohl-Witwe geschickt, um die Akten aus ihrem Keller rauszuholen.

Das Berliner Verwaltungsgericht hat die Klage auf Herausgabe der Akten unlängst aber vollumfänglich abgelehnt. Mit welcher Begründung?

Das Gericht hat die Entscheidung der Verfassungsrichter ignoriert. Zu deren Vorgabe, dass der Gleichheitsgrundsatz gewährt werden müsse, meinte es lediglich, dass das Bundeskanzleramt ja grundsätzlich keine entwendeten Akten zurückfordert. Und zur Eigentumsfrage verwies es auf die Novellierung des Bundesarchivgesetzes.

Sieht das Bundesarchivgesetz denn keine Widerbeschaffungspflicht bei entwendeten Akten vor?

Das ist ein unglaublicher Skandal. Es gab eine Anhörung im Bundestag zur Novellierung des Bundesarchivgesetzes, dazu wurde auch ein Sachverständiger der politischen Parteistiftungen geladen, Herr Küsters von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Alle anderen Parteien – also auch Grüne, Linke und FDP – erteilten ihm ihr Mandat. Er sprach für alle und sagte, dass man diese Akten nicht teilen solle, die Stiftungen sollten sie behalten. Für mich sieht es so aus, als ob es ein geheimes Kartell von Berufspolitikern gibt, die gemeinsam gegen die in der Verfassung verbrieften Rechte agieren.

Die Bundesregierung hat kein Interesse, diese Akten zu sichern?

Im Gegenteil. Im Auswärtigen Amt, das ein eigenes Archiv unterhält, sieht man das anders, aber das Kanzleramt hat sich verbarrikadiert und will grundsätzlich keine Akten herausgeben. Politiker-Reden, Pressemitteilungen, so etwas schon, aber keine Dokumente, die für eine korrekte Geschichtsschreibung wichtig wären. Die politischen Parteien stützen diese Tendenz.

Welche anderen Aktenbestände in Privathäusern von Politikern gibt es?

Es gab sie in Hamburg, in der Helmut-und-Loki-Schmidt-Stiftung. Diese sind aber inzwischen ins Bundesarchiv überführt worden. Und die Globke-Akten, die liegen immer noch in der Adenauer-Stiftung. In dieser Sache habe ich eine Verfassungsbeschwerde eingebracht.

Mit dem Urteil zu den Kohl-Akten geben Sie sich nun geschlagen?

Nein, mein Anwalt Raphael Thomas legt jetzt erst mal Berufung ein. Dann geht die Sache ans Oberverwaltungsgericht. Wenn das die Klage ebenfalls verwirft, weiter an das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Und von dort im negativen Fall nach Karlsruhe. Wenn die Verfassungsrichter ablehnen, geht es nach Straßburg.

2017 wurde die erste Klage eingereicht, jetzt sind es schon drei Jahre vorüber. Das kann locker weitere sieben Jahre dauern. Dann sind wir bei zehn. Die ganze Sache hatte ich 2012 mit einer Klage gegen das Bundesarchiv wegen Untätigkeit begonnen, weil es zu wenig gegen diese Privatisierung von amtlichen Unterlagen getan hatte. Das heißt, so ein Rechtsweg kann dann bis zu 20 Jahren dauern. Was hat das noch mit einem Rechtsstaat zu tun? Mit dem Demokratiegebot?

Gaby Weber ist Journalistin und Buchautorin, sie lebt und arbeitet in Buenos Aires und Berlin.

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